Natalia Mihailova
Die unabhängige Journalistin Anhar Kochnewa lebt und arbeitet seit mehr als zehn Jahren in Syrien. Nach ihrer Schilderung entspricht die Lage in Syrien in keiner Weise der Berichterstattung in den Massenmedien. Kochnewa ist gebürtige Russin und spricht fließend Arabisch. Ihre Freunde und Nachbarn sind ganz normale Syrer. Sie bewegt sich in den gleichen Straßen und Vierteln von Damaskus und erledigt dort ihre Einkäufe wie alle anderen Einwohner der syrischen Hauptstadt ebenfalls. Wir haben vor Kurzem mit ihr gesprochen und sie dabei auch nach den Gründen für die schon so lang anhaltende Unruhe in Syrien gefragt.Gab es irgendwelche tieferen Ursachen für die Krise in Syrien?
Anhar Kochnewa: Noch vor einem Jahr gab es keinerlei Anzeichen für eine Krise. Auch im März 2011 ereignete sich nichts Außergewöhnliches. Die ganze Entwicklung begann als kriminelle
Ich halte mich seit sieben Monaten ständig in Syrien auf, und ich habe nur drei so genannte »Demonstrationen« erlebt. Ich nenne sie »so genannt«, weil sie nur aus sehr wenigen Menschen bestanden und weil sie ganz offensichtlich dort postiert worden waren, um für die Journalisten eine Demonstration zu inszenieren. Diese »Proteste« wurden dann fünf oder zehn Minuten lang gefilmt, dann gingen die Menschen wieder rasch auseinander. In einigen Städten übernahmen zeitweise Kriminelle die Kontrolle und zwangen die Menschen, sich an Demonstrationen zu beteiligen.
Ich lebe seit Ende der 1990er Jahre in Syrien. Um die Wahrheit zu sagen, das Land gefiel mir damals nicht. Jetzt lebe ich schon eine ganze Weile in diesem Land, und ich muss sagen, es hat sich etwas geändert. Die Lebensumstände und auch die Menschen haben sich verändert. Viele Menschen haben eigene Geschäfte eröffnet und sich einen gewissen bescheidenen Wohlstand erarbeitet.
Aus diesem Grund hätten die Menschen vor zehn Jahren wahrscheinlich die Proteste unterstützt, aber jetzt nicht. Heute will die Bevölkerung Stabilität. Es gibt unnötiges Chaos und einige Unordnung. Die Menschen waren daran gewöhnt, in einem friedlichen Land zu leben. Syrien gehörte zu den sichersten Ländern in der Region. Wenn man eine Tasche mit Geld irgendwo vergessen hatte und man kehrte zwei Tage später an den Ort zurück, fand man die Tasche dort noch unberührt. Das ist heute leider nicht mehr so. Die Menschen sind besorgt. Sie haben etwas verloren, auf das sie stolz waren.
Wer steckt hinter den Bombenexplosionen, den Schüssen auf Menschen und der Zerstörung der Gebäude?
Vor einigen Wochen hielt ich mich in [der angeblichen Rebellenhochburg] Homs in dem nunmehr berüchtigten Viertel Baba Amr auf. Die meisten Bewohner des Viertels haben ihre Häuser und Wohnungen verlassen. Meine Freunde lebten 800 Meter von Baba Amr entfernt. Sie erzählten mir, Kriminelle und nicht die Armee hätten auf ihre Häuser geschossen. Die syrische Armee tötet keine Menschen. Sie reagiert nur, wenn eine Situation eskaliert.
In den letzten Monaten zählten vor allem Soldaten der syrischen Armee zu den Opfern. Die so genannten Rebellen kämpfen in den Straßen, zeichnen Videos auf und verbrennen Autoreifen. Wenn auf einem »Handy-Video« schwarzer Qualm zu erkennen ist, geht dieser Qualm nicht auf Artilleriebeschuss, sondern auf brennende Autoreifen zurück.
Vor einem Monat hielt ich mich in Zabadani im Südwesten Syriens auf. Kriminelle Banden schüchterten die gesamte Stadt ein. Die Medien berichten oft über die humanitäre Katastrophe in Syrien. Es handelt sich auch um eine humanitäre Katastrophe, wenn sich eine ganze Stadt in den Händen von Kriminellen befindet.
In Zabadani wurden meine Kollegen und ich von Kriminellen gefangengenommen. Sie zeigten uns einen rostigen Panzer und erklärten, damit sei die Stadt beschossen worden. Aber die beiden zerstörten Häuser befanden sich mitten in dem Viertel. Ich kann mir nicht erklären, wie der Panzer aus der Luft oder um die Ecke geschossen haben soll. Dann trommelten sie ein paar Leute zusammen und organisierten extra für uns eine kleine Demonstration. Ich sah mir die Gesichter der Menschen an und erkannte in ihnen nur Angst und Hass. Sie fürchteten sich vor den Kriminellen und hassten sie.
Sie sprechen immer von »Kriminellen«. Handelt es sich nicht um Aufständische oder um Oppositionelle?
Unter den Kriminellen befinden sich viele Söldner. Sie stammen aus Tschechien, Rumänien, Frankreich, Libyen und Afghanistan. Man erzählt sich eine groteske Geschichte zu afghanischen Soldaten. Ein paar Afghanen waren gefangengenommen worden, und man fragte sie, warum sie hierhergekommen seien. Sie antworteten: »Man sagte uns, wir würden nach Israel gebracht, und in der Nacht sollten wir israelische Busse beschießen. Wir kämpfen für die Befreiung Palästinas.« Das hört sich lustig an, aber es ist wahr. Die Leute waren sichtlich überrascht, als man ihnen erklärte, sie befänden sich in Syrien. »Wir sind hier in Syrien? Wir dachten, wir seien in Israel.«
Syrische Kriminelle organisieren sich in bewaffneten Banden. Diese Verbrecher sollten eigentlich im Gefängnis sein. Solche Typen findet man in jedem Land. Wenn sie die Kontrolle über eine Stadt übernehmen, verbrennen sie zuerst die Aufzeichnungen und Archive der Strafverfolgungsbehörden.
Aber wie gesagt, solche Leute findet man in jeder Gesellschaft… Sie genießen es, Macht zu besitzen. Sie wollen nicht arbeiten, aber über viel Geld verfügen. Man kann eine Stadt auch mit relativ wenigen Menschen terrorisieren. Schon zwei Scharfschützen können das öffentliche Leben in den Straßen zum Erliegen bringen.
Am 7. Mai fanden Parlamentswahlen statt. Hat sich die Opposition an den Wahlen beteiligt?
Ja, es war ein sehr lebendiger Wahlkampf. An den Häuserwänden aller großen Straßen in Damaskus klebten die Wahlplakate der verschiedenen Kandidaten. Insgesamt bewarben sich nachffiziellen Angaben 7.200 Kandidaten um 250 Sitze. Was macht Sie so sicher, dass diese Wahlen undemokratisch waren? Wer behauptet so etwas? Die Führer der syrischen Opposition? Sie leben seit vielen Jahren in Europa. Was wissen sie schon über das wahre Syrien? Was wissen sie schon über unsere Bedürfnisse und Wünsche? Lassen wir doch die Syrer über ihre Zukunft selbst entscheiden.
Die wichtigen in Syrien tätigen Oppositionsparteien haben an den Parlamentswahlen teilgenommen. Aber ich will hier noch ein Detail berichten, das die Situation erhellt. Vor drei Tagen wurde der Sohn des Vorsitzenden der Nationalpartei ermordet. Die Partei erhielt Drohungen, die sie von einer Beteiligung an den Wahlen abhalten sollten. Aber die Partei weigerte sich, diesen Drohungen nachzugeben, und dann wurde der Sohn des Vorsitzenden ermordet. Wer ist dafür verantwortlich? Die Regierung oder diejenigen, die jegliche positiven Veränderungen in Syrien verhindern wollen? Die Kriminellen brauchen keine Reformen; sie setzen auf Destabilisierung und Chaos im Land.
Welche Parteien stehen sich im Syrienkonflikt gegenüber?
Syrien steht den Veränderungen des politischen Gleichgewichts, die die USA anstreben, im Weg – das ist die Tragik. Wenn man das Buch Where to Invade Next, das von Stephen Elliott herausgegeben wurde, liest, versteht man den Arabischen Frühling viel besser.
Aufgrund der Berichterstattung der internationalen Medien leben wir alle sozusagen in der parallelen Medienwirklichkeit. Die ganze Welt sieht praktisch einen Film über etwas, das tatsächlich so gar nicht existiert; eine fiktionale Erzählung, die sich als Wirklichkeit ausgibt. Hier wird die internationale Öffentlichkeit manipuliert.
Wie beurteilt man den Annan-Friedensplan [in Syrien]?
Die einen sind der Auffassung, es handele sich um den Versuch, den Kriminellen die Möglichkeit und die Atempause zu verschaffen, sich neu zu organisieren und aufzustellen. Jeder, mit dem wir hier in Homs gesprochen haben, sagte uns, die syrische Armee hätte die Probleme mit den Kriminellen innerhalb einer Woche bereinigen können. Eine andere Ansicht besagt, die USA wollten sich aus dem Konflikt zurückziehen, ohne das Gesicht zu verlieren.
Vor dem Hintergrund der Entscheidung der Vereinten Nationen müssten sie [die USA] einräumen, dass die syrische Regierung Recht hatte und dann jede weitere Eskalation der Situation unterlassen. Ich persönlich ziehe diese Einschätzung vor. Ich halte sie für richtig, weil man die Augen vor der Wahrheit nicht verschließen kann. Man kann jemanden einmal oder zweimal hinters Licht führen, aber es ist praktisch unmöglich, dies über einen langen Zeitraum aufrecht zu erhalten. Ich bin sicher, die 300 UN-Beobachter werden die Wahrheit erkennen. Sie zum Lügen zu bewegen wäre schwierig.
Eine letzte Frage: Stehen Sie auf der Seite der syrischen Regierung?
Ich? Ich kenne niemanden aus der Regierung. Ich unterstütze das syrische Volk und niemanden sonst."
Quelle: http://info.kopp-verlag.de/hintergruende/geostrategie/natalia-mihailova/augenzeugenbericht-interview-enthuellt-medienluegen-ueber-syrien.html
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