Aleppo, Dezember 2012: Zu Syrien hatte ein Al Dschazira-Korrespondent Bilder, die der Zentrale nicht passten und nicht gesendet wurden. Das ist kein Einzelfall |
Was ist für Sie ein Terroranschlag und was ein Angriff des legitimen Widerstands?“, fragte mich an einem Bagdader Herbsttag der libanesisch-stämmige Sprecher des amerikanischen Außenministeriums im Irak, Nabil Khoury. Sein Blick war vorwurfsvoll. Schließlich stand Al Dschazira seinerzeit in den Augen amerikanischer Politiker und Medien unter dem Verdacht, die Gewalt im Irak unter der Besatzung zu unterstützen. „Die Sache ist einfach, Herr Khoury“, erwiderte ich, „Aktionen, die amerikanische Militärziele treffen, sind Widerstand. Irakische Zivilisten zu töten ist Terrorismus.“ „Beispiel!“, forderte er. „Na, gestern wurde das Al-Rashid-Hotel, in dem die amerikanische Armee ihren Generalstab hat, mit Raketen beschossen. Das ist Widerstand.“ „Aktham! Ich war im Hotel. Die Explosionen waren so nah, dass ich vom Bett gefallen bin. Einige Freunde und Kollegen von mir sind verletzt worden.“
Bei aller Sympathie für Herrn Khoury könnte ich die Definition nicht ändern. Recht auf Widerstand gegenüber einer Besatzung ist ein international anerkanntes Recht, Sympathien und Antipathien hin oder her. Es war die Zeit der - zumindest relativen - Klarheit und des Selbstbewusstseins bei Al Dschazira. Man fühlte sich der Wahrheit und den Prinzipien des unabhängigen Journalismus verpflichtet, koste es, was es wolle. Kritik am Sender von außen und vor allem vor laufenden Kameras wurde als Bestätigung empfunden, als willkommenes Werbematerial, das zusammengeschnitten und auf dem eigenen Bildschirm immer wieder gezeigt wurde.
Ein Sender auf Talfahrt
Die arabischen Zuschauer erinnern sich bis heute an die Gegenüberstellung des amerikanischen Verteidigungsministers Donald Rumsfeld und des irakischen Informationsministers Mohammad Said Al-Sahhaaf in einer dieser Sequenzen. Beide mit der Botschaft: Al Dschazira sage nicht die Wahrheit. Al Dschazira handelte damals nach dem Motto: Wenn beide Konfliktparteien das sagen, dann ist es eine Bestätigung für die Richtigkeit der Berichterstattung. Politiker, Parteien und Regierungen waren über längere Strecken wütend auf Al Dschazira; Zuschauer und Mitarbeiter dagegen glücklich. Die Talfahrt zwischen 2004 und 2011 war schleichend, unterschwellig und sehr langsam, doch mit einem katastrophalen Ende.„Ali! Ich bin es, dein Kollege aus Berlin. Hast du die Veröffentlichungen im Internet über die angebliche E-Mail-Korrespondenz zwischen dir und Rola gesehen?“, fragte ich Anfang dieses Jahres den Al-Dschazira-Korrespondenten im Libanon, Ali Hashem, am Telefon. Kurz zuvor war ich auf die Veröffentlichung vermeintlicher E-Mails von Al-Dschazira-Mitarbeitern durch die sogenannte „elektronische syrische Armee“, eine regierungsnahe syrische Hackergruppe, gestoßen. Der Korrespondent Ali Hashem habe der in der Zentrale in Qatar arbeitenden syrischen Moderatorin Rola Ibrahim in einer E-Mail berichtet, er habe 2011 bewaffnete syrische Revolutionäre an der Grenze zum Libanon gesehen und gefilmt.
Der Sender habe die Bilder nicht ausgestrahlt, weil sie einen bewaffneten Aufmarsch zeigten, der nicht zur gewünschten Geschichte eines friedlichen Aufstands passte. „Meine Vorgesetzten sagten mir, vergiss, was du gesehen hast!“, schrieb Hashem an Rola laut Veröffentlichung. Diese soll geantwortet haben, es ergehe ihr nicht besser. Man habe sie „massiv gedemütigt, nur weil ich den Sprecher der oppositionellen Muslimbrüder in Syrien, Zuhair Salem, bei einer Nachrichtensendung durch meine Fragen in Verlegenheit brachte. Man drohte mir damit, mich von Interviews in Sachen Syrien auszuschließen und nur noch die Nachtschichtnachrichten präsentieren zu lassen, unter dem Vorwand, ich würde die Ausgewogenheit des Senders gefährden.“
Fehler werden zum Programm
„Erwünschte“ und weniger erwünschte Bilder? Strafen für „zu kritische“ Interviews? Bei Al Dschazira? Hier muss gesagt werden, dass im Propagandakrieg zwischen den Anhängern und den Gegnern des syrischen Regimes im Internet alles möglich ist, auch Lug und Trug, wie die Monate seit dem Ausbruch des Aufstandes Mitte März 2011 gezeigt haben. Die Regimeanhänger wollten zeigen, dass die Aufständischen nur „bewaffnete Banden“ sind. Die Regimegegner wollten zeigen, dass Gewalt nur von der syrischen Armee ausgeht. Deswegen fragte ich Ali Hashem, ob die Geschichte stimme. Seine Antwort war vernichtend: „Doch, es stimmt. Das sind wirklich meine E-Mails mit Rola. Ich weiß nicht, was ich nun machen soll.“ Einige Tage später wusste er es. Ali Hashem ging.Gehen ist das Einzige, was einem bleibt, wenn die Fehler - die es immer wieder im schnellen Nachrichtengeschäft gibt - zum Programm werden, wenn sie nicht mehr als Fehler erkannt, behandelt und geahndet werden. „Das Ganze muss Folgen haben. Was machen wir, wenn der Vorgesetzte, der zu Ali sagte, er solle vergessen, was er gesehen hat, einem von uns eines Tages sagen würde: Vergiss, dass die Hand fünf Finger hat! Hat die Hand dann mehr oder weniger Finger je nach Bedarf und Laune des Vorgesetzten?“, schrieb ich im Al-Dschazira-Talkback, einer internen Plattform nur für Mitarbeiter. Keine Reaktion.
Interne Diskussionen waren bei Al Dschazira nicht mehr angesagt. Der Vorgang blieb kein Einzelfall. Im Gegenteil: Er machte Schule. Schnell wurde für die Mitarbeiter klar: Hier geht es um Politik, nicht um Journalismus. Genauer: um qatarische Außenpolitik, die subtil angefangen hatte, Al Dschazira als Instrument einzusetzen, um Freunde zu preisen und Gegner anzugreifen.
Aus einer Geisel wird ein Überläufer
Es war nicht der erste Zwischenfall. Als der Japan-Korrespondent von Al Dschazira, Fadi Salameh, Ende 2011 für einen Monat in der Zentrale in Qatar aushelfen sollte, fragten ihn Kollegen, wie er als Syrer die Berichterstattung zu Syrien finde und empfinde. Er antwortete ausweichend mit etwas wie: So lala. Wieso? Er sagte, man nehme es mit der Genauigkeit leider nicht mehr so ernst, wie es sich gehöre, und erzählte von seinem Cousin, der auf dem Bildschirm des Senders einige Tage zuvor in einem Video als Überläufer des syrischen Militärs zu sehen war. Dieser soll angeblich in der kurzen, von den Rebellen ins Internet gestellten Aufnahme die Seite zur „Freien Syrischen Armee“, also zu den Rebellen, gewechselt haben.Das könne doch zutreffen, sagte ein Kollege. „Eben nicht. Das war ein Geiselvideo. Die Angst meines Cousins, der zuvor von den Rebellen gefangen genommen wurde, war nicht zu übersehen.“ Später wird Fadi erzählen, dass man sich bei Al Dschazira inzwischen anmaße, besser zu wissen, was mit jemandem in Syrien passiere, als die eigenen Familienmitglieder. „Erst als ich sagte, dass mein Cousin zwei Tage vor seiner Hochzeit verschwand, waren einige bereit nachzudenken“, sagte Fadi, „Gott sei Dank kam keiner auf die Idee, der Bräutigam wollte einer Zwangsehe entkommen.“ Er kann dabei nicht lachen. Der Cousin kam nie wieder zurück und gilt als tot. Als die Geschichte zu einer libanesischen Zeitung durchsickerte, war, was einem Verantwortlichen bei Al Dschazira dazu einfiel: „Ach, diese gelben Blätter!“
„Das ist ein Büro der Muslimbrüderschaft.“
Al Dschazira ist erfinderisch geworden: Diejenigen, die in der Redaktion protestieren oder dem Sender den Rücken kehren, seien „Anhänger des syrischen Regimes“, wie der jordanische, dem islamistischen Lager nahestehende Autor Yaser Al Zaatra in einem Gastartikel auf der - man glaubt es kaum - Internetseite von Al Dschazira im Frühjahr schrieb.Der Angriff auf die eigenen Mitarbeiter im eigenen Internetauftritt sollte darüber hinwegtäuschen, dass nicht Syrien, sondern die fehlende Professionalität das Kernthema der inneren Konflikte im Sender ist. Der Kairoer Al-Dschazira-Korrespondent Samir Omer wechselte Anfang des Jahres nicht wegen Syrien zu SkyNews, sondern, wie er Kollegen erzählte: „Weil ich es nicht mehr aushalten kann. Das ist hier kein Al-Dschazira-Büro mehr. Das ist ein Büro der Muslimbrüderschaft“, also jener Gruppe, die von Qatar in allen arabischen Ländern unterstützt wird und als Gewinnerin des „Arabischen Frühlings“ gilt.
Minister werden zu Propheten
Der Pariser Büroleiter Zyad Tarrouch war Tunesier, kein Syrer. Er ging schweigend im Sommer, kurz nach den Präsidentschaftswahlen in Frankreich. Kein Wunder nach wochenlangem Dauerleiden und Vorladungen bei den französischen Behörden, weil der Al-Dschazira-Dauergast, Scheich Yusef Al Qaradawi, in einer Sendung zum Mord an dem ehemaligen libyschen Machthaber Muammar al Gaddafi aufrief und dem Sender in Frankreich eine Klage wegen „Aufruf zum Mord“ bescherte. „Verdammt, ich bin ein Journalist!“, murmelte Zyad in seinen letzten Tagen beim Sender vor sich hin. Als dann der Russland-Korrespondent Mohammad Al Hasan im Sommer ging und den Agenturen auf Nachfragen mitteilte, er gehe, weil von ihm hetzerische Berichterstattung über Russland erwartet werde, suchten erfinderische Köpfe in der Chefredaktion ihr Heil in der Behauptung, er gehe, weil er eine Döner-Kebab-Bude in Moskau eröffnen wolle.Es ist schwierig herauszufinden, was die beiden Rentner, der amerikanische Ex-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und der irakische Ex-Informationsminister Mohammad Said Al-Sahhaaf, heute machen. Eine verspätete Freude dürfte ihnen der Sender dennoch bereiten. Beide werden als Propheten in die Geschichte eingehen, und zwar mit der Aussage: „Al Dschazira erzählt nicht die Wahrheit.“ Jetzt, fast zehn Jahre später, hat sich die Aussage leider bewahrheitet. Es ist also so weit. Auch für mich bedeutet das: Abschied nehmen. Seit Oktober ist der Deutschland-Korrespondent von Al Dschazira nicht mehr „on air“."
Quelle: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/ein-abschied-von-al-dschazira-vergiss-was-du-gesehen-hast-11988966.html
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