Samstag, 9. Februar 2013

"Eine Stimme aus Syrien"

"Die Syrien-Berichterstattung in den deutschen Medien folgt weitgehend unkritisch den Vorgaben der US-Propaganda. Nur wenige Journalisten, in erster Linie Peter Scholl-Latour, Manuel Ochsenreiter und Jürgen Todenhöfer, wagen einen genaueren Blick und denken selbst, wo andere bloß abschreiben. Auch Der Freiheitliche wollte nun wissen: was geschieht wirklich? Zu diesem Zweck stellten wir der syrischen Schriftstellerin und Aktivistin Fatime Oomyadin einige Fragen…
Frau Oomyadin, bitte stellen Sie sich doch unseren Lesern kurz vor!
Gern. Ich danke für Ihr Interesse an den Vorgängen in Syrien. Wie Sie sagen, ist die Berichterstattung in westlichen Medien leider einseitig und verbreitet die von Qatar fabrizierten Lügen. Daher schätze ich Ihr Interesse sehr. Zu mir: ich bin 1973 in Tyros / Libanon geboren als Tochter eines Syrers und einer Libanesin. Mein Vater ist sunnitischer Muslim, meine Mutter stammt aus einer jüdischen libanesischen Familie. Religion ist in meiner Familie der persönlichen Entscheidung untergeben, wir betrachten uns als syrische Patrioten. 1984 wanderten wir – nach neun Jahren des Bürgerkrieges im Libanon überdrüssig – nach Deutschland aus. Meine insgesamt 14 Jahre in Deutschland haben mich sehr beeinflußt. Zum Einen besuchte ich die Schule, lernte Deutsch, zum Anderen hatte ich deutsche Freunde, las deutsche Literatur (in die ich mich verliebte). Als Teenagerin hatte ich einen deutschen Freund. In Berlin wohnend, sind wir Zeugen des Mauerfalls und der Wiedervereinigung geworden. Der Mauerfall hat uns tief bewegt, das war ein ungeheurer Moment. Mein Vater ist ein beherrschter Mann, der Emotionen höchstens in Ironie kundtut. Am Abend des 09. November 1989 saß er vor dem TV-Gerät, sah die Bilder von den jubelnden Menschen und weinte hemmungslos. Dann rief meine Tante an und berichtete, in Damaskus führen die Menschen Autokorso und machten Party aus Freude für Deutschland. Wir haben uns für die Deutschen sehr gefreut, haben gespürt: da endet eine schlimme Zäsur der Geschichte, und die Menschen in Europa (das größer ist als die EU) finden zusammen. 1993 bin ich dann zum Studium (Sprach- und Literaturwissenschaften) nach Damaskus gegangen. Bis zu diesem Zeitpunkt war Syrien das Land meines Vaters gewesen, jetzt lernte ich es kennen… und verliebte mich in dieses von der Geschichte des 20. Jahrhunderts so gebeutelte Land, seine Menschen, seine Zivilisation. Die 1990er Jahre waren nicht einfache Jahre in Syrien. Ich erinnere mich, wie an einem Tag Hafez al-Assad einen Vortrag mit anschließender Aussprache hielt. Natürlich, Hafez war ein Mann mit ungeheurer Präsenz, traute sich wenige Menschen zu fragen. Ich erinnere aber eine Antwort auf die Frage, was denn von uns jungen Akademikern in spe erwartet würde. Hafez dachte kurz nach und sagte dann: „Sie sollten eines nie vergessen: es ist das syrische Volk, das Ihnen Ihr Studium ermöglicht. Arbeiter, Handwerker, Bauern, Soldaten geben ihren Einsatz, daß Sie hier sein können. Das sollten Sie als Privileg sehen, und jedes Privileg ist eine Verpflichtung. Daher meine Antwort, was wir von Ihnen erwarten: egal, in welche Positionen Sie gelangen werden, vergessen Sie niemals, daß die Brotfrau, der Teeverkäufer, der Kupferschmied, der Busfahrer es waren, die Ihnen dies ermöglicht haben. Beweisen Sie, daß Sie dieser Auszeichnung würdig sind.“ 1997 kam meine Tochter Leila zur Welt, sie ist eine wirklich stolze Damaszenerin. Nach einem erneuten Aufenthalt in Deutschland 2004-2008 kamen wir dann zurück nach Syrien, wo wir in Aleppo, in der Stadt meines Vaters, leben. Ich bin verwitwet und alleinerziehend für Leila. Im Übrigen bin ich nur Autorin, keine Schriftstellerin – und ‘Aktivistin’ ist ein Begriff, den ich mir nicht nehmen möchte.


Immer wieder lesen wir, in Syrien gebe es eine Diktatur der alawitischen Minderheit unter Assad über die sunnitische Mehrheit, welche sich deshalb in der Freien Syrischen Armee (FSA) organisiert habe, um Assad zu stürzen und zu ihrem Recht zu kommen…
Daran ist wahr, daß die sunnitischen Muslimbrüder seit der Entwicklung Syriens zu einem modernen, säkularen republikanischen Staate in den 1950er Jahren ALLE Mittel nutzen, um diesen freien, säkularen – modernen – Staat zu vernichten und Syrien in einen wahhabitischen (salafistischen) Gottesstaat zu verwandeln. Wir müssen ein wenig historisch denken, um das zu verstehen: Syrien ist die Wiege des Christentums; der Christenverfolger Saulus wurde in Damaskus zum Christen Paulus, die ersten Klöster und mönchischen Orden entstanden in Syrien. Syrien ist auch Sitz des ersten islamischen Kalifats der Umayyaden, die von Damaskus aus den Islam in den Orient, den nordafrikanischen Maghreb und bis nach Spanien trugen. 1918 endete mit dem Untergang des Osmanischen Reiches formal die Fremdherrschaft über Syrien. Die Erbmasse der Osmanen übernahmen nur zu gern die imperialistischen Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien, die im „Sykes-Picot“-Abkommen von 1917 bereits Großarabien in mehrere Staaten mit künstlich gezogenen Grenzen aufgeteilt hatten, um eigene Einflußgebiete zu generieren. So wurden aus dem historischen Syrien („Cham“) die Staaten Irak, Transjordanien, Palästina und Syrien – als Torso einstmaliger Größe – kreiert. Syrien wurde vom Völkerbund Frankreich als sogenanntes „Mandat“ zugeschlagen – eine milde Umschreibung der faktischen kolonialen Übernahme. Nach einem mehr als 20 Jahre währenden bewaffneten Widerstand gegen die Besatzung konnte Syrien sich 1945 endlich – aus eigener Kraft – befreien. In der Folge kam es zu einer Phase der Instabilität, gekennzeichnet von raschen Regierungswechseln. Der christliche Syrer Michel Aflak gründete die Bewegung al Baath (Wiedergeburt), die mit panarabischer, nationalistischer und sozialistischer Politik die Araber einen und vom Joch der Bevormundung befreien sollte. 1970 gelang dem baathistischen Luftwaffenoffizier Hafez al-Assad ein Putsch gegen die Regierung – womit er einen drohenden Krieg gegen Jordanien abwendete. Hafez’ Ziel war eine Stabilisierung Syriens durch geordnete Machtverhältnisse. Als Alawit (eine der schiitischen Richtung des Islam entstammende Sekte) lag ihm daran, die religiösen Minderheiten vor Schikane und Verfolgung zu schützen – was ihm die Loyalität der Alawiten (die er anführte), aber auch der Christen und Juden sicherte. Die Alawiten kommen aus dem Küstenstreifen zwischen Banyas und Latakia. Die Loyalität der Alawiten und Christen brachte in der Folge eine zahlenmäßig überproportionale Beteiligung dieser religiösen Minderheiten an der Macht mit sich. Dies kann man, – will man in religiös-sektiererischen Kategorien denken, sicher kritisieren. So wie man dann sicher Deutschland als „Gottesstaat“ titulieren würde, denn Deutschland wird regiert von einer Pastorentochter und einem Theologen als Bundespräsident… Was sagen eigentlich Ihre Katholiken dazu? Die westliche Interpretation, Hafez habe Syrien quasi für die Alawiten erobert, ist falsch: sie mißinterpretiert die Rolle von Stammes- und Clanloyalitäten, die noch heute die basisdemokratische Grundlage der syrischen (arabischen) Gesellschaft bilden. Die Versammlung direkt gewählter und direkt ihren Stammesmitgliedern verantwortlichen Stammesoberer (Sheikhs) ist wesentlich demokratischer, als so manche parlamentarische Demokratie auf dieser Welt… Mehrere Interventionen („regime change“ sagt man heute) der USA mittels CIA-Anschlägen und einer feindlichen Politik der USA motivierten Syrien, sich der Bewegung der Blockfreien anzuschließen und mit der Sowjetunion zusammenzuarbeiten. Diese Anbindung an den ‘unheiligen Kommunismus’, das baathistische, nationalistisch-sozialistische System und die alawitische Herkunft Assads brachten die Muslimbrüder (eine Gründung des britischen Geheimdienstes, wie man heute weiß) dazu, sich in Feindschaft zu begeben und mittels Terror ihre absolute Minderheitsposition zu kompensieren, mit dem Ziel, den rein sunnitischen Gottesstaat herbeizubomben. Die sozialen Reformen der Baath-Regierung unterstützten vor allem die besitzlose Landbevölkerung, stellten die Frauen den Männern gleich, und sorgten für ein gut ausgebautes Sozial- und Bildungssystem mit Chancen für alle. Diese Reformen wollten die Muslimbrüder zurückdrehen. In den Augen der Muslimbrüder hat ein Landarbeiter seinem Herrn, eine Frau ihrem Mann Untertan zu sein – und Bildung erscheint diesen Koranauslegern als ein zu verachtendes Gut. In den 1970er und 1980er Jahren erschütterten die Muslimbrüder das nach Sicherheit und nationalem Aufbau sehende Syrien immer wieder mit brutalem Terrorismus, Morden und Entführungen sowie Bombenanschlägen. 1982 schließlich ließ Hafez die Hochburg der radikalsten Gotteskrieger, Hama, bombardieren. Mit diesem Machtzeugnis zerschlug er die Organisation der Muslimbruderschaft, und sorgte dafür, daß Syrien sich nach Jahrzehnten der Unruhen endlich beruhigen und erholen konnte. In den vergangenen Jahren haben die Muslimbrüder, dank vielfältiger Unterstützung aus Saudi Arabien, Qatar und den USA, sich reorganisiert und mit Terror und Haß-Propaganda („Christen nach Beirut – Alawiten ins Grab“) den Krieg gegen das weltliche Syrien wieder aufgenommen. Die Mehrheit der Syrer steht zu Syrien, natürlich gibt es vom fanatischen Anhänger Assads bis zum ebenso fanatischen Gegner das gesamte Spektrum an Meinungen. Ist das so anders als in Deutschland? Der über uns gebrachte, von außen gesteuerte Krieg der „FSA“ und anderer vom Ausland bezahlter, instruierter, bewaffneter Banden hat mit den religiösen Gruppierungen nichts zu tun – er mißbraucht sie nur. Die FSA als bewaffnete Truppe von Muslimbrüdern und Kriminellen will die Syrer in Haß gegeneinander stürzen, auf daß sie leichter die Macht an sich reißen können. Die FSA ist keine islamische Gruppierung im rechtmäßigen Verständnis des Islam, sondern eine in der Türkei gegründete und von der türkischen Regierung maßgeblich beeinflußte Bande von Massenmördern, die Christen, Schiiten, Alawiten und Sunniten umbringt. Die FSA verantwortete die Massaker von al-Houla und Tremseh. Die „al-Farrouq“-Brigade der FSA hat etwa 50.000 Christen aus Homs vertrieben, in Aleppo hat sie die Christen nachts aus den Häusern getrieben, die Menschen mußten fliehen mit nichts außer dem Hemd auf dem Körper – oder, wurden wie die Alawiten, gleich erschossen. Ich habe das Blut und die Löcher in den Wänden gesehen (und darüber geschrieben). Die FSA mordet syrische Kinder, Frauen, Männer wahllos und aus Kalkül – die Religion ist nur ein Vehikel. Vermutlich redet sie den weniger intelligenten ‘Kämpfern’ ein, daß sie die Sunniten befreiten… aber, wie gesagt, das ist Propaganda und durchsichtig. Die FSA kann nicht ernsthaft von sich sagen, sie vertrete die sunnitische Mehrheit derjenigen, die sie vergewaltigt, schlägt, foltert, umbringt. Dies gilt natürlich ebenso für den al-Qaida-Ableger „Jabhat al-Nusra“, der sich durch seine Grausamkeit als absolut unislamisch bewiesen hat.
Wie schätzen Sie, ist das Zahlenverhältnis zwischen syrischen und ausländischen Kämpfern innerhalb der FSA?
Dazu gibt es keine Zahlen, nur eine grobe Orientierung anhand der sicher gestellten Pässe von gefangengenommenen oder getöteten Terroristen. Die FSA wurde im Juni 2011 in Istanbul als Terrororganisation für den operativen Krieg gegen Syrien gegründet. Die FSA ist der operative Arm des „Nationalrates“. Ausbildung, Bewaffnung und Führung liefen in der Türkei durch die türkische Armee, die CIA und den Mossad. Die Flüchtlingslager, bereits im Sommer 2010 an der Grenze errichtet, dienen als Rekrutierungsbasen. Im Laufe des Jahres 2012 – insbesondere durch die grausamen Massaker von al-Houla, Tremseh, Daraya, sowie die Kriegführung gegen das Volk, hat die FSA mögliche anfängliche Sympathien völlig verloren – welcher Mensch erstrebt für sein Volk schon Massaker, Vergewaltigung, Tod, Elend und Leid? So sank der – ohnehin nie hohe – Anteil der Syrer in der FSA, was zu einem vermehrten Import ausländischer Jihadisten („Gotteskrieger“) durch die Dispatcher des Todes, Türkei und Qatar, geführt hat. Die ratio innerhalb der FSA dürfte bei etwa 70:30 liegen, Die anderen al-Qaida zugeordneten wahhabitischen Bünde wie die „al-Nusra-Front“ sind faktisch rein ausländisch bestückt. Die meisten Ausländer sind saudischer, jordanischer, maghrebinischer oder yemenitischer Herkunft, aber auch Afghanen, Pakistaner, Briten und Australier haben den Weg nach Syrien gefunden….
Wie ist das Verhältnis der verschiedenen religiösen Gruppen in Syrien untereinander?
Als hier in Aleppo die Syrische Armee die von der FSA eroberte und verwüstete Umayyaden-Moschee zurückeroberte, haben christliche Soldaten sich am Hofeingang die Schuhe ausgezogen, aus Respekt vor dem Gotteshaus ihrer muslimischen Brüder.
Über Glassplitter, Trümmer sind sie gelaufen, mit blutigen Füßen. Sie haben gekämpft, um das Gotteshaus ihrer muslimischen Brüder zu befreien. In Homs haben Soldaten eine Kirche vor dem Sturm der FSA Banden bewahrt, anschließend haben Muslime und Christen in der Kirche gebetet.
Ist Ihnen dies genug Erklärung für die herzliche Brüderlichkeit der Menschen, die zuerst Syrer sind, und erst dann etwas anderes?
Bashar Al-Assad ist während seiner Präsidentschaft auf die Opposition zugegangen, insbesondere wurden andere Parteien erlaubt. Ich las einmal (sinngemäß), Bashar Al-Assad selbst sei glaubwürdig in seinem Reformwillen, müsse sich damit aber gegen gewisse alte Machtstrukturen, welche sich unter seinem Vater gebildet hätten, durchsetzen. Tatsächlich herrschte dieser weitaus autoritärer. Wie schwer ist das Erbe, welches der Präsident zu tragen hat? Wird er im Volk als „der Nachfolger“ oder als eigenständiger starker Führer wahrgenommen?
Zunächst: es wurden nicht nur Parteien zur Parlamentswahl 2012 zugelassen – es sind auch Oppositionspolitiker in die aus den Parlamentswahlen hervorgegangene Regierung eingetreten. Dies zeigt: die INNERsyrischen Strömungen vereinen sich in der Frage der Verteidigung Syriens. Die im Ausland lebenden Herrschaften, die sich „legitime Vertretung des syrischen Volkes“ nennen, werden hier von niemandem anerkannt. Mit Terroristen, Mördern unserer Kinder, Zerstörern unserer Städte, Lügnern und schmutzigen Kriminellen wie Qhatib oder Saba wollen wir nichts zu tun haben.
Anfangs haben viele Bashar al-Assad als schwachen Nachfolger gesehen. Auch für Hafez war Bashar „zweite Wahl“ gewesen (ursprünglich war der Erstgeborene Basil vorgesehen, der jedoch 1994 starb). Bashar ist ein erfolgreicher Augenarzt gewesen, der sich dem Wunsch des Vaters zu einer ‘dynastischen’ Nachfolge gebeugt hat, auch, um den Schutz der Alawiten weiter sicherzustellen. Im Amt jedoch hat Bashar ein Format entwickelt, welches sicher nicht alle Beobachter ihm zugetraut haben. Er hat wichtige Reformen angenommen – so die Liberalisierung der Wirtschaft oder die Einführung des Internets. Die Medienlandschaft ist diversifiziert – Sie können tatsächlich in Syrien heute 10 oder mehr Sender haben mit Nachrichten, die vollkommen unabhängig sind, und daher sehr unterschiedlich auch berichten und kommentieren. Wenn ich in Deutschland bin, sehe ich 10 oder 12 Sender, und alle sagen wortwörtlich das Gleiche…
Natürlich gehen weitreichende Reformen in einem Land, welches 30 Jahre strikt und eisern regiert worden ist, in dem sich eine Machtelite etabliert hat, die weniger an Format denn an Pfründen zu messen war, nicht über Nacht. Natürlich haben Bonzen aus der Baath-Nomenklatur und den Behörden versucht, Bashars Reformen, welche sie egoistisch als Gefahr eigener Pöstchen sahen, zu hintertreiben. Ein Paradebeispiel hierfür ist Riad Hijab langjähriger Baath-Bonze, erfolgloser Gouverneur und Landwirtschaftsminister. In den zwei Monaten seiner Funktion als Ministerpräsident betrieb er Landes- und Hochverrat: er instruierte landwirtschaftliche Betriebe, Vertrauenspersonen von ihm große Mengen an Salpeter auszugeben – dieser wurde später für Bomben genutzt, die viele Syrer umgebracht haben. Nachdem er von Bashar entlassen worden war, setzte er sich nach Jordanien ab und seither verbreitet er von da für das empfangene qatarische Blutgeld diejenigen Lügen, die al-Jazeera, al-Arabiya, Orient, BBC, CNN, ARD, ZDF, usw. gern senden wollen…. Nach Beendigung des Krieges wird Bashar aufräumen müssen.
Was wäre nach einem Sturz Assads zu erwarten?
Zu erwarten ist realistisch eine Irakisierung bzw. Balkanisierung Syriens. Chaos, der totale Zusammenbruch und ein lang dauernder, sehr blutiger Bürgerkrieg. Weiterhin die Zerteilung Syriens unter die Feinde Israel und Türkei, evtl. weitere Fragmentierung anhand ethnischer Linien.
Als „Operation Desert Storm“ gegen den Irak Saddam Husseins lief, beteiligten sich auch syrische Kontingente. Meines Wissens hatten zu diesem Zeitpunkt US-amerikanische Neocons allerdings bereits deutlich gemacht, daß auch Syrien auf ihrer Abschußliste stand. War die syrische Führung so naiv, zu glauben, diese Unterstützung der US-Interessen würde sie dauerhaft aus dem Fadenkreuz bringen? Was waren die Motive?
Naivität nehme ich weniger an. Sicher waren damals noch ALLE Menschen weltweit so wenig brutalisiert, an eine tatsächliche Umsetzung der radikalen Neocon-Planspiele zu glauben. Seit 2001 sind wir schlauer. Speziell für Syrien allerdings galt auch der Wunsch, den unberechenbar und aggressiv auftretenden Nachbarn Saddam Hussein, mit dem Hafez al- Assad eine tiefsitzende gegenseitige Feindschaft verband, einzudämmen. Erinnern Sie sich bitte, daß Syrien, um Saddam begegnen zu können, sich mit den Mullahs von Teheran verbunden hat. Heute ist das Verhältnis zur Islamischen Republik Iran freundschaftlich und tief, damals entsprang die Solidarität des sozialistisch-säkularen Baath-Syrien mit dem schiitischen Gottesstaat wohl eher Machtkalkül. Religiöse Nähe, wie sie wenige Analysten ausmachen, kann ich speziell für die Assads als auch die politische Führung nicht ausmachen.
Es ist noch gar nicht so lange her, daß die Türkei unter Erdogan eng mit Syrien zusammenarbeitete. Mittlerweile dürfte sie der aggressivste Gegner Syriens in der Region sein. Wie kam es zu diesem Wechsel, was verspricht sich Erdogan davon?
Das ist eine gute Frage, die ich gern an den türkischen Ministerpräsidenten richten würde. Natürlich gibt es zu Erdogans radikaler Wendung diverse Interpretationen – aber, wie der Name sagt, es sind Vermutungen. Verräterisch sind auf jeden Fall die seit 2011 neu intensivierten Beziehungen zu Israel. Eine ausgeprägte Großmannssucht ist Herrn Erdogan zu attestieren. Türkische Freunde verrieten mir, daß es einen Plan für ein „Great game“ gebe, an dessen Ende Israel sich den Großteil Syriens und Teile des Irak einverleiben würde („Erez Israel“), die Kurden eine autonome Region aus den Kurdengebieten der Türkei, Syriens und des Irak erhielten, und Syrien aufgeteilt werden würde. Dieses Horrorszenario scheint mir glaubwürdig, aber ist natürlich nicht verifiziert von offizieller Seite.
Wie wurden der Krieg gegen Libyen und das Ende Ghaddafis eigentlich in Syrien wahrgenommen?
Für uns war dies eine atemberaubende Erfahrung: Israel, die USA in Eintracht mit den imperalistischen Mächten Europas und den Golf-Diktatoren mißbrauchen unter Zuhilfenahme der NATO eine UN-Resolution, um den Führer eines souveränen Landes wegzubomben…. Die aktive Unterstützung des Westens für al-Qaida, der Einsatz der Jihadisten als Kämpfer für die USA und Israel, sind erstmals der ganzen Welt vor Augen geführt worden. Diese Arbeitsteilung hat sich dann in Syrien wiederholt.
Kurz nach der Ermordung Ghaddafis wurde ich auf ein anderes Problem aufmerksam, als ich im Netz eine „Pro-Palästina-Seite“ fand, welche allerdings das Ende des libyschen Oberst feierte und massiv gegen Assad hetzte. Tatsächlich scheint die Hamas zwischen eher nationalen, proiranischen und den Moslembrüdern nahestehenden Kräften gespalten zu sein. Wie ist insgesamt das Verhältnis zwischen Syrien und Palästinensern insgesamt und der Hamas im Speziellen?
Vorweg: die Hamas ist nicht proiranisch, denn sie ist in ihrem Verständnis eine sunnitisch-orthodoxe Bewegung. Allerdings haben Sie richtig bemerkt, daß die Hamas sich seit 2011 geradezu panisch von Syrien abgewendet und insbesondere Qatar an den Hals geworfen hat – die Übersiedlung Meshals von Damaskus nach Doha, der Besuch des qatarischen Emirs und die Zusagen von größeren Summen für Hilfsprojekte scheinen dies zu bestätigen. Meshal und Haniye sieht man seither ständig mit der FSA-Flagge wedeln. Da hat viel Geld gelockt, und ein süßes Leben. Solchen Verlockungen sind charakterschwache Menschen nicht gewachsen. Daß die Hamas durch ihre Liebschaft mit dem seinerseits auf das Engste mit Israel verbundenen Qatar an Glaubwürdigkeit verliert, sieht man daran, daß die provokativen Raketenangriffe vom Gazastreifen auf Israel von der Hamas nicht beeinflußt werden konnten… Syrien hat seit den 1950er Jahren bereitwillig seine Türen für das entrechtete palästinensische Volk geöffnet, mit ca. 500.000 aufgenommenen palästinensischen Flüchtlingen hat das Syrische Volk eine große Integrationsaufgabe geschultert. Unsere Brüder und Schwestern aus den von den Zionisten geraubten Landstrichen Palästinas sind voll integriert. Daß die Palästinenser wissen, wer ihr echter Freund ist, ersehen Sie an den schwindenden Sympathiewerten für die verräterische PLO und Hamas. Gleichzeitig haben die Palästinenser innerhalb Syriens alle Versuche der antisyrischen Terroristen, sie mit Gewalt gegen die Regierung aufzustellen, zurückgewiesen. Unsere palästinensischen Brüder und Schwestern sind Teil der großsyrischen Familie.
Al-Jazeera galt einst als recht seriöse Nachrichtenquelle für den Nahen Osten. Seit der Emir von Katar den Sender übernommen hat, hat sich die Ausrichtung geändert. Welche Rolle spielt Al-Jazeera im Fall Syrien?
Die Entwicklung Al-Jazeeras macht mich traurig, denn dieser Sender startete einst hoffnungsgebend als „Stimme Arabiens“. Allerdings: schon Vergleiche mit dem stets eingebundenen Sender CNN müßten mißtrauisch machen. Heute ist Al-Jazeera das Sprachrohr des bekannt aggressiven qatarischen außenpolitischen Kurses, und Propagandamittel gegen Syrien und den Iran. Nach Auftrag mit Schauspielern hergestellte Videos, die angebliche Verbrechen der syrischen Armee ‘dokumentieren’ sollen, zeigen, daß dieser Sender mit „Bericht“ nichts, mit „Lüge und Propaganda“ alles zu tun hat. Die hergestellten Lügen al-Jazeeras sind alle durch Dokumente widerlegt. Zum Beispiel wurde der Auftakt der syrischen Krise schlicht erfunden, mit bezahlten Schauspielern, die nach dem Freitagsgebet in einigen Städten auf die Straßen gingen und lauthals den Sturz der damaszener Regierung / des Präsidenten forderten. Auch die ‘Entführung und Folter’ von Kindern aus Dara’a ist schlicht erfunden, in Wirklichkeit liefen umfangreiche Gespräche zwischen Regierung und Vertretern von Beduinenstämmen im Süden, die lauthals Verbesserungen ihrer Bedingungen gefordert hatten.
In Qatar sind Szenerien gefilmt worden, die dann als Akte von Gewalt des ‘Assad-Regimes’ gegen das syrische Volk via al-Jazeera und dem saudischen Pendant al-Arabiya verbreitet worden sind – auch sind in Doha umfangreiche Nachbauten syrischer Städte und des damaszener Präsidentenpalastes erstellt worden, um in dieser Hollywood-Kulisse Spielszenen zu filmen, die dann als realistische Berichte „von Aktivisten“ über das Internet von den westlichen Medienpartnern verbreitet und dort unreflektiert als „IST-Situation“ verbreitet werden. So kommen qatarische Propagandalügen auf Ihren Bildschirm in Deutschland. Mit Syrien haben diese Erstellungen so viel zu tun wie ein Grashalm mit der Raumfahrt. Goebbels wäre mehr als begeistert vom Coup des qatarischen Emirs, al-Jazeera zum wirksamsten Propagandainstrument zu machen.
Was hat Monsanto mit der Aggression gegen Syrien zu tun?
Dazu gibt es Spekulationen, zu deren Verifikation oder Falsifikation mir die Hintergründe fehlen. Sicher erscheint, daß Monsanto großes Interesse hat, Einfluß weltweit zu gewinnen. Inwieweit Monsanto auch in die Strategie Kissingers zur „Depopulation“ (Konzept von 1973) oder andere Ziele der USA integriert ist, fragen Sie besser jene, die dort entscheiden.
Auch Israels Rolle ist kompliziert. Syrien ist traditionell anti-zionistisch, aber verhandlungsbereit gewesen. Nun scheint Israels Regierung (wenn auch im Land nicht ohne Widerspruch) zumindest gegen Assad radikale Sunniten zu unterstützen, mit welchen aber kein Auskommen möglich wäre. Der bisher als extremer Zionist bekannte US-Politiker Henry Kissinger meinte ganz nüchtern, in zehn Jahre werde es kein Israel mehr geben. Was ist da los? Planen zionistische Politiker in der Region selbst einen Flächenbrand, der Israels Ende bedeuten könnte?
Den Satz von Kissinger, wiedergegebenen in einer zionistischen New Yorker Klatschpostille, habe ich auch gelesen… Der Luftangriff der Israelis auf Jamraya am 30. Januar zeigt gewiß, daß Israel aktiv die al-Qaida unterstützt – bzw. diese benutzt. Das zionistische Regime will Assad stürzen, selbst auf die Gefahr eines Flächenbrandes hin. Verständlich: wer sein Regime auf den Knochen von Menschen baut, wer sein Land auf geraubtem Land errichtet, der denkt wohl nur in faschistoiden Kriterien.
Auch die Bundesrepublik Deutschland hat mittlerweile ein ernstzunehmendes Problem mit sunnitischen Extremisten, welche hier auf einen Staat unter der Scharia hinarbeiten, namentlich der Moslembruderschaft und insbesondere den Salafisten – also jenen Kräften, welche den wesentlichen Teil der Feinde Assads in Syrien stellen. Im Grunde müßte die BRD doch diesbezüglich im säkulären Syrien einen Verbündeten sehen… warum unterstützt sie stattdessen diese Extremisten? Und was würden sie raten: wie sollte sich Deutschland gegenüber den hier lebenden Moslembrüdern und Salafisten verhalten?
Die fatale Rolle Deutschlands bedaure ich sehr. Die aggressive antisyrische Position der Politik, die vorbereitete Kriegshandlung (Patriot-Stationierung), die Unterstützung der Terroristen, die massiven Lügen der Medien – bis zum Mordaufruf an Assad – machen es mir schwer, meine Liebe für Ihr schönes, großartiges Land aufrecht zu erhalten.
Die Motive vermag Ihnen Herr Westerwelle sicher besser zu erklären. Er ist es ja auch, der seit April 2011 ganz offen gegen die Regierung in Damaskus arbeitet, Terroristen nach Berlin einlädt, ihnen dort ein Verbindungsbüro einrichtet, und dessen „think tank“ „Stiftung für Wissenschaft und Politik“ unter Volker Perthes aktiv an einem Konzept über Syrien nach Assad arbeitet. In diesem Zusammenhang verweise ich auf das hauseigene Interview des Auswärtigen Amtes mit dem Staatsekretaer Hoyer vom Mai 2011, in dem dieser (ich zitiere sinngemäß) sagte: Deutschland unterstützt die Opposition. Auf Nachfrage des hauseigenen Fragestellers, ob Herr Hoyer bzw. sein Chef denn wisse, wer diese Opposition sei, erwiderte Herr Hoyer deutlich: nein, man wisse nicht, wer im Einzelnen die Opposition ausmache.
Hieran erkennen Sie m.E. deutlich die Fremdsteuerung deutscher Politik. Man weiß nicht so genau, aber, auf jeden Fall – man ist dafür. Offenkundig wird die deutsche Außenpolitik an anderen Orten als Berlin definiert…. Dies mag auch Ihre berechtigte Frage beantworten, weshalb Deutschland in Syrien die übelsten al-Qaida-Elemente Terrorismus ausüben und Syrien zerstören läßt, während es in Mali eben jene Terroristen bekämpft.
Es steht mir nicht an, Deutschland Ratschläge zu erteilen. Aus meiner Schilderung der Rolle der Muslimbrüder in Syrien als aktive terroristische Zellen zur Errichtung eines islamischen Kalifates, sowie aus dem Verhalten der Muslimbrüder in Ägypten und Tunesien kann man jedoch seine Rückschlüsse auf Motivationen, Propaganda und Vorgehensweisen der Muslimbrüder in Deutschland tätigen. Nun ist nicht jeder Salafist (so sehr ich dieses gelebte Mißverstaendnis des Islam auch ablehne) ein gewaltbereiter Bombenleger. Die gewaltbereiten Kräfte zu identifizieren und rechtzeitig auszuschalten, ist Herausforderung Ihrer Behörden. Grundsätzlich aber erleichtert die islamophobe Grundstimmung in D  dem Gast jedoch klar gemacht werden; hier gelten Gesetze, für alle – wer sich nicht daran hält, wird bestraft. Dies ist auch ein psychologisch wichtiges Zeichen an die okzidentale Mehrheitsgesellschaft, daß rechtsfreie Parallelgesellschaften nicht geduldet werden.
Möchten Sie unseren Lesern noch etwas mitteilen?
Hinterfragen Sie alles, was man Ihnen plausibel machen möchte. Je verschwommener die Bilder, je vager die Information, je abstruser die Meldung – desto höher ist die Chance, daß es alles nur Lüge ist.
Wenn Sie sehen was mit Syrien passiert – bevor Sie sagen, ist doch ok, ist weit weg.. fragen Sie sich bitte: möchten Sie, daß alles, was hier passiert – Vergewaltigung, Raub, Folter, Entführung, Massaker, Zerstörung – auch genauso IHNEN wiederfährt? Falls NEIN: warum ist es dann für Sie ‘ok’, daß es mit IHREN Steuergeldern in Syrien passiert?
Frau Oomyadin, wir danken für die Beantwortung unserer Fragen!
Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen und Ihren Lesern von Herzen das Beste."

Quelle: http://aip-berlin.org/2013/02/08/eine-stimme-aus-syrien-interview-an-syrische-aktivistin/

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