"Cole Bunzel aus Princeton haben wir einen
faszinierenden und verstörenden Einblick in das jihadistische Denken
über den Krieg in Syrien zu verdanken: Für “Jihadica” hat er ein Dokument übersetzt,
das das Ergebnis eines Al-Kaida-Brainstormings über Syrien enthält, mit
strategischen Überlegungen, aber auch “Empfehlungen”. Die erste ist
übrigens “Geduld und noch einmal Geduld”, die zweite, das Ziel nie aus
den Augen zu verlieren, das da wäre: die Annihilation der Alawiten und
die Etablierung von Gottes Gesetz in Syrien, als Vorstufe zur Errichtung
eines Kalifates auf der ganzen Welt.
So weit, so wenig überraschend. Die
Details sind aber sehr spannend. So kraus das Dokument ist, so wenig
idealisierend ist es in dem Sinn, dass die Jihadisten meinen würden, die
Eroberung Syriens sei eine leichte und schnelle Sache. Im Gegenteil –
mit dem Sturz des Regimes von Bashar al-Assad werde der eigentliche
Kampf erst beginnen, prognostizieren sie. Diese Einschätzung hat ihre
Entsprechung in der Sorge von westlichen Beobachtern – und vieler Syrer
und Syrerinnen – für die Zeit danach.
Zwei “rote Linien” gibt es für die
Jihadisten, über “die man nicht debattieren kann”. Die erste ist der
islamische Staat und die zweite die Nichtanerkennung der
“Sykes-Picot-Grenzen”. Mark Sykes und Georges Picot waren bekanntlich
jene Diplomaten aus Großbritannien und aus Frankreich, die 1916 das
geheime “Asia-Minor”-Abkommen schlossen, in dem die Briten und Franzosen
ihre Einflusszonen im Nahen Osten für die Zeit nach dem Ersten
Weltkrieg festschrieben (und das die dem haschemitischen Scherifen von
Mekka, Hussein bin Ali, gegebenen britischen Versprechen für die
Errichtung eines unabhängigen arabischen Reiches brach). Die Jihadisten
sehen die Länder in der Region als einen einzigen Raum: Bilad al-Sham,
Großsyrien. Ganz typisch für diese Nichtanerkennung der kolonialen
Grenzen ist auch die Bezeichnung, die das Dokument für den König von
Jordanien – ein Nachkomme vom oben erwähnten Scherif Hussein, der ja von
der Familie Saud aus Mekka vertrieben wurde – wählt: der “Klient und
Sohn der Kreuzfahrer in Jordanien”. Jordanien ist ja als Land ein
Produkt dieser Neuordnung nach dem Weltkrieg.
Schiiten und Heiden
Auszulöschen sind die Alawiten, der große
und mächtige Feind ist jedoch die
“Zionisten-Kreuzritter-Zoroastrier”-Allianz: also Israel, der Westen –
und der Iran, der anderen jihadistischen Dokumenten meist als der
“safawidische” bezeichnet wird (die Safawiden, 1501 bis 1722, führten in
Persien die Schia als Staatsreligion ein). Die Einstufung von Schiiten
als Ungläubige kommt auch in dem Ausdruck Hizb al-Lat für Hizb Allah,
also für die libanesische schiitische Hizbollah zum Ausdruck: Al-Lat war
eine vorislamische heidnische Gottheit.
Die Kreuzfahrer werden nach dem Sturz
Assads in Syrien intervenieren, um “den Frieden zu sichern”, “die Juden
(gemeint ist Israel, Anm.) zu schützen” oder auch, um der “armen und
unschuldigen Alawiten-Gemeinschaft” zu Hilfe zu eilen. Zu diesem Zwecke
werde man Syrien teilen und die alawitische Sekte werde als “Nagel im
Hals der Sunniten in Großsyrien” erhalten werden. Das ist dann der
wirkliche Kampf.
“Säkulare Islamisten”
Überraschend ist die Vehemenz, mit der
sich das Dokument gegen “die Islamisten” wendet, nämlich die “säkularen
Islamisten” oder “säkularen Pseudo-Muslime”. Damit sind vor allem die
Muslimbrüder gemeint, die von der “internationalen Verschwörung”
gefördert werden. Sie sollen an die Macht gebracht werden und die
Drecksarbeit für die ungläubigen Mächte erledigen, indem sie die
Jihadisten bekämpfen. Auf der Seite der “säkularen Islamisten” steht
auch die (alles Zitate) Muslimbruderschaftsregierung in der Türkei, der
Kreuzrittersohn in Jordanien und seine Muslimbruderfreunde, die
libanesische Hizbollah, die Safawidenregierung im Irak (gemeint ist,
dass die Regierung Maliki vom Iran abhängig ist), die Heuchler im Hijaz
(gemeint ist das saudi-arabische Königshaus), die Muslimbrüderregierung
in Ägypten und andere.
Das Dokument zeigt sich auch sehr medienbewusst: Der “lügende”
Fernsehkanal Al Jazeera führe einen Krieg gegen die Jihadisten, auch
indem er deren Kriegserfolge in Syrien regelmäßig der “Free Syrian Army”
zuschreibe. Dem müsse man mit einer Informationskampagne
entgegentreten. Das Dokument nennt auch ausdrücklich die Jabhat
al-Nusra, die Nusra-Front, als Arm der Al-Kaida in Syrien. Der Autor
fügt auch eine “persönliche” Notiz an: Er selbst sei gegen Angriffe auf
“das, was man Israel nennt”. Das würde den Kreis der Feinde nur
erweitern. Nur wenn Israel direkt zugunsten der Alawiten eingreife oder
in einer späteren Phase “die Entschlossenheit der Mujahidin (also der
Jihadisten, Anm.) testen werde”, dann werde einem nichts anderes übrig
bleiben. (Gudrun Harrer, derStandard.at, 4.3.2013)"
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