"Der Nahostexperte Günter Meyer zeichnet eine Realität des
Syrien-Konfliktes, die von westlichen Medienberichten abweicht. Er
glaubt weder an einen Durchbruch in Genf noch an eine türkische
Intervention.
Herr Meyer, am Samstag soll in Genf über einen neuen Syrien-Plan
beraten werden, der eine Übergangsregierung der nationalen Einheit
vorsieht. Welche Chancen sehen Sie für die Initiative?
Nicht die geringsten. Die radikale Opposition (der Syrische Nationalrat und die Freie Syrische Armee,
Anm. d. Red.) fordern kompromisslos den Rücktritt Assads und seines
inneren Machtzirkels, damit sie einer solchen Lösung zustimmen. Alle,
die Blut an Händen haben, sollen demnach zur Verantwortung gezogen
werden. Unter diesen Bedingungen hat der neue Annan-Plan keine Chance,
auch wenn er diplomatischer formuliert ist. Das Regime kann sich nicht
darauf einlassen. Zudem widerspricht der Vorschlag den Forderungen der
innersyrischen Opposition.
Glauben Sie, dass unter den herrschenden Umständen eine innenpolitische Lösung möglich ist?
Immerhin haben im Mai Parlamentswahlen stattgefunden, bei denen das Volk
erstmals die Wahl zwischen mehreren Parteien hatte. Die Beteiligung
offiziell bei 60 Prozent. Auch wenn sie in Tat und Wahrheit etwas
niedriger war: wir sehen eine relativ starke Unterstützung für Assads
Reformkurs, vor allem in den Metropolen Damaskus und Aleppo.
Die Wahlen und die neue Regierung, die Assad am Dienstag eingesetzt hat, sind also mehr als Pro-forma-Reformen?
Bei den Wahlen wurden verschiedene Oppositionsgruppen gewählt, die seit
Jahren das Regime kritisieren und deren Exponenten dafür auch in den
Gefängnissen sassen. Einige von denen haben jetzt Ministerposten
erhalten. Ich werte dies als Zeichen, dass Assad zu einem gewissen
politischen Wandel bereit ist. Dass die radikale Opposition dies nicht
akzeptiert und die westlichen Medien kaum darüber berichten, ist
bezeichnend.
Das mag sein, aber das Land steuert direkt auf einen Bürgerkrieg zu. Nüchtern betrachtet gibt es kein Zurück.
Es gibt kein Zurück, das ist richtig. Das hat auch Assad in seiner
Ansprache klar gemacht. Wenn er sagt: Wir sind im totalen Krieg, dann
heisst das, dass er alle militärischen Möglichkeiten einsetzen wird. Und
gewinnen will. Das bedeutet eine Wende, die gewaltsamen
Auseinandersetzungen werden sich deutlich verschärfen. Assad steht mit
dem Rücken zur Wand. Die Repression zu Beginn der Aufstände war
offensichtlich. Durch die Militarisierung der Revolution kann Assad
jetzt das grosse Schreckgespenst des Terrorismus an die Wand malen.
Das heisst, Assad setzt auf Konfrontation bis zum bittere Ende?
Es geht ja nicht nur um ihn. Gerade jener Teil der Bevölkerung, der
hinter dem Regime steht, verlangt mehr Schutz durch die syrische Armee
vor Entführungen und anderen Übergriffen der Revolutionäre. Dort lautet
die Kritik, das Regime gehe nicht entschieden genug gegen die
Widerstandsnester vor. Kommt hinzu, dass viele Syrer Angst haben vor
dem, was nach Assad kommt. Nach der heutigen Konstellation des Syrischen
Nationalrates, der von Muslimbrüdern und Salafisten dominiert wird,
haben die religiösen Minderheiten allen Grund zur Furcht vor Verfolgung.
Ihre allgemeine Darstellung unterscheidet sich von jener in den gängigen westlichen Medien.
Das erste Opfer im Krieg ist immer die Wahrheit. In westlichen Medien
dominiert weitestgehend eine einseitige Darstellung, die von einer
Allianz aus USA, den sunnitischen Golfstaaten, der Türkei und den
Natostaaten geprägt ist. Die Informationen, die wir bekommen, stammen im
Wesentlichen von der Opposition. Die andere Seite wird automatisch
ausgeblendet. Die Argumente des Regimes und der russischen Regierung
werden negiert. Verstehen sie mich nicht falsch, alles ist verzerrt. Wer
recht hat, ist nicht nachzuweisen. Auch die innersyrische Opposition
wird bei uns nicht zur Kenntnis genommen.
Was fordert die?
Dass ein Präsident, der den Rückhalt von über der Hälfte der Bevölkerung
geniesst, nicht von aussen abgesetzt werden darf. Keine Intervention
von aussen, nur innersyrische Verhandlungen können zu einem friedlichen
Ende führen. Darin deckt sich die innersyrische Opposition mit der
Position Russlands.
Heute hiess es, die Russen würden Annans
Übergangsplan allenfalls zustimmen. Moskau forderte Assad zu «längst
fälligen Reformen» auf. Wendet sich Russland allmählich von Assad ab?
Absolut nicht. Die ganze Glaubwürdigkeit Moskaus hängt davon ab, auf der Seite von Assad zu bleiben.
Die
Russen fürchten um die lukrativen Waffenlieferungen an Syrien und ihren
Stützpunkt am Mittelmeer. Stehen nicht viel eher diese strategischen
Überlegungen im Vordergrund?
Natürlich spielt das eine Rolle. Doch die Golfstaaten, die Türkei und die USA agieren genauso strategisch.
Die
Türkei mobilisiert jetzt massiv an der Grenze. In der Region hat Ankara
noch andere Probleme mit Kurden und Alewiten. Kommt Erdogan die
Situation gelegen?
Auch was die Türkei angeht, haben wir im Westen blinde Flecken. Die
türkische Opposition wirft Erdogan vor, dass er mit seinem Ziel, den
Panislamismus zu verbreiten, die Position der Türkei in der Region
massiv gefährdet. Er wird auch für den Tod der zwei abgeschossenen
Luftwaffensoldaten verantwortlich gemacht, den er in Kauf genommen habe,
um mit Katar und den Saudis die nicht-sunnitische, säkulare Herrschaft
in Syrien zu stürzen. Gelegen kommt Erdogan die Situation aber nicht.
Die Kurden haben für den Fall eines türkischen Einmarsches in Syrien
bereits Aktionen in Anatolien angekündigt. Und es würde die
wirtschaftlich wichtigen Beziehungen zum Iran gefährden."
Quelle: http://www.tagesanzeiger.ch/ausland/naher-osten-und-afrika/Assad-ist-zum-Wandel-bereit/story/27174702
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