Montag, 20. Februar 2012

"In Homs führte mich ein Anhänger Assads ins Zimmer seiner dreijährigen Tochter. Scharfschützen hatten aus einem Hochhaus in das Kinderzimmer geschossen, um seine Assad-Begeisterung zu dämpfen."

„Um Demokratie geht es dabei leider nicht. Nur von Gegnern des Westens, wie Syrien, wird lupenreine Demokratie gefordert. Weil man sie für einen praktischen Hebel zum Sturz der Feinde des Westens hält. So stellen der US-Publizist Charles Krauthammer und Senator Joe Liebermann begeistert fest, dass die Forderung nach Demokratie wenigstens bei Assad zu den strategischen Zielen der USA passe – ganz anders als bei den übrigen Diktatoren Arabiens. Das seien zwar auch keine „zartherzigen Menschenfreunde“, aber man brauche sie als Verbündete. … Schon wenige Tage nach Beginn der syrischen Unruhen gelangten über Qatar moderne Waffen in die Hände der Rebellen. Gleichzeitig begann eine gigantische, pinocchioartige Medienkampagne gegen das Syrien Assads. Ihre Hauptquelle sind unüberprüfbare Handy-Filme. … Auch die überwiegend regimekritische Beobachterkommission der Arabischen Liga berichtete, dass sie bei der Überprüfung von Explosionen und Gewalttaten in Syrien mehrfach feststellen musste, dass diese frei erfunden waren. Jede zweite Meldung, die ich während meines vierwöchigen Aufenthalts in Syrien überprüft habe, war falsch. Das ändert nichts am Widerstandsrecht der Syrer gegen Diktatur, an ihrem Recht auf Demokratie. Syrien gehört dem syrischen Volk und nicht einer einzelnen Familie. Wenn der im Westen ausgebildete Assad derselben Meinung ist, muss er sich an die Spitze der Demokratiebewegung stellen. Was aber ist, wenn Assad genau das versucht? Was, wenn der Volksaufstand in Syrien, anders als der in Tunesien, Ägypten und Libyen, gar kein klassischer Volksaufstand ist, sondern ein Aufstand starker lokaler Gruppen, dem mindestens ebenso starke Pro-Assad-Gruppen gegenüberstehen, die auch Demokratie wollen, aber mit Assad? Ein marxistischer Kinderarzt, der 14 Jahre in den Kerkern des Vaters von Bashar al-Assad gesessen hatte, erklärte mir, der Einzige, der Demokratie auf friedlichem Wege bringen könne, sei Assad. Als Oppositionspolitiker falle es ihm nicht leicht, das zu sagen. Aber es sei nun einmal die Realität. … In Homs führte mich ein Anhänger Assads ins Zimmer seiner dreijährigen Tochter. Scharfschützen hatten aus einem Hochhaus in das Kinderzimmer geschossen, um seine Assad-Begeisterung zu dämpfen. Die Beobachterkommission der Arabischen Liga berichtet von schweren Angriffen der Rebellen auf Zivilisten. Der Abschlussbericht schildert als Beispiel die Bombardierung eines Busses, bei der acht Zivilisten getötet wurden, Frauen und Kinder. Längst ist nicht mehr sicher, wer in Syrien mehr Zivilisten tötet – die staatlichen Sicherheitskräfte oder die Rebellen. … Gleichzeitig treten genauso unbestreitbar große Bevölkerungsteile vor allem in Damaskus und Aleppo, aber selbst in Homs für eine Demokratisierung mit Assad ein. In manchen Stadtteilen von Homs, das ich zweimal besucht habe, hängen noch immer große Poster mit Assads Bild. In 70 Prozent von Homs geht das Leben seinen normalen Gang. … Viele Syrer machen einen großen Unterschied zwischen Assad und dem Regime – wie jener marxistische Kinderarzt. Die Lage in Syrien unterscheidet sich fundamental von den Revolutionen in Tunesien, Ägypten und Libyen. Dort richtete sich der Aufstand vor allem gegen die seit Jahrzehnten herrschenden Staatschefs. In Syrien richtet sich die Kritik vor allem gegen das korrupte System und weniger gegen den relativ jungen Präsidenten. Dessen Position ist in den letzten Monaten sogar stärker geworden. Immer mehr Syrer haben Angst, dass ihr Land wie der Irak im Chaos versinkt. Assad hat der Opposition längst  einen Dialog vorgeschlagen. In einer Woche beginnt eine Volksabstimmung über eine neue demokratische Verfassung. Assad plant ferner Parlamentswahlen und spätestens zwei Jahre später freie Präsidentschaftswahlen, die er auch verlieren kann. Kein anderer arabischer Diktator hat sich auf ähnlich umfassende Reformen festgelegt. … Aber warum nehmen wir Assad nicht beim Wort und stellen sicher, dass diese Wahlen echten demokratischen Standards entsprechen? Warum fordern unsere demokratischen Helden ähnliche Volksabstimmungen nicht auch von Saudi Arabien oder Qatar? … Ja, Assad ist politisch verantwortlich für jeden Zivilisten, der im syrischen Bürgerkrieg stirbt. Genauso wie Obama für die getöteten Kinder Pakistans und Afghanistans und die deutsche Bundesregierung für die Toten von Kundus. Aber all das sind keine Gründe gegen Verhandlungen. Gerade mit Gegnern muss man verhandeln. Die klügsten Vorschläge hat Russland gemacht. Es hat die Konfliktparteien nach Moskau zum Dialog eingeladen. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass ich einmal russische Außenpolitik westlicher Politik vorziehen könnte. Doch wie im Chor schleuderte die Nato der russischen Regierung entgegen, ihr Verhalten sei ein „Schande“. Wieso eigentlich? Syrien braucht diesen Dialog der verfeindeten Gruppen so dringend. Nur so lässt sich das Blutvergießen beenden. Doch von weiser Vermittlung ist der Westen meilenweit entfernt. Er zieht es vor, im Syrienkonflikt Interessenpolitik zu betreiben und mit dem Feuer zu spielen. …“

Quelle: http://www.facebook.com/notes/j%C3%BCrgen-todenh%C3%B6fer/die-syrische-trag%C3%B6die/10150561001190838

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