Mittwoch, 13. Juni 2012

"Zweierlei Maß: Syrien und die deutsche Außenpolitik"

"Anlässlich der Anschläge auf zwei Kirchen in Nigeria gab der Sprecher des Auswärtigen Amtes, Andreas Peschke, auf der Bundespressekonferenz am Montag eine Erklärung im Namen von Außenminister Westerwelle ab, der die Anschläge „verurteilt“. „Dieser religiöse Terror ist durch nichts zu rechtfertigen. Religionsfreiheit ist ein grundlegendes Menschenrecht, für das die Bundesregierung weltweit entschieden eintritt. Wir erwarten deshalb von den nigerianischen Behörden, dass sie konsequent gegen diesen religiös motivierten Terror vorgehen und die Sicherheit aller Religionsgemeinschaften in Nigeria sicherstellen“, so die Stellungnahme.
Nachfragen gab es keine. Dabei drängt sich eine Frage geradezu auf: Warum schweigt Außenminister Westerwelle zu den zahlreichen Verbrechen, die islamistische Extremisten an Christen und Angehörigen anderer religiöser Minderheiten in Syrien verüben?
Überall dort, wo die in den Medien zumeist euphemistisch als „Rebellen“ oder „Freiheitskämpfer“ bezeichneten islamistischen Kräfte es geschafft haben, das syrische Militär zu vertreiben, beginnt für die dort lebenden Christen, Schiiten und Alawiten ein Leben in Angst und Schrecken.
Bereits vor einen halben Jahr berichtete Erzbischof Matta Roham aus Hassake über den Terror, dem Christen zunehmend ausgesetzt sind. „Gestern rief mich, noch unter Schock, ein Bischof aus Homs an mit der furchtbaren Nachricht, dass weitere vier Christen aus seiner Gemeinde verschleppt wurden,” so der Erzbischof . Kurz zuvor waren zwei Christen entführt worden. Einer wurde erhängt, die Leiche des anderen zerstückelt wiedergefunden. „Die Entführer haben mit Mord gedroht! Wie wird wohl in Zukunft das Schicksal aller Christen sein?”
Die Entwicklung seitdem verheißt nichts gutes für Zukunft der Angehörigen religiöser Minderheiten in Syrien. In einem Gebetsbrief der Kommission für Religionsfreiheit der Weltweiten Evangelischen Allianz von Mitte Februar heißt es, mehr als 100 Christen seien seit Beginn der Aufstandes im März 2011 getötet wurden.
Asia News berichtete zu diesem Zeitpunkt bereits von mehr als 230 getöteten Christen alleine in der Provinz Homs, der Hochburg der Aufständischen. „Der Konflikt, der mit populären Forderungen nach Demokratie und Freiheit begann, verwandelte sich in eine islamische Revolution“ wird eine Angehörige des syrischen Klosters von Saint Jacques le Mutilé zitiert.
Auch die Schilderungen des Buchautors und ehemaligen CDU-Bundestagsabgeordneten Jürgen Todenhöfer, der das arabische Land besuchte und im April in der FAZ über seine Erlebnisse schrieb, passen nicht in die üblichen Darstellungen, wie sie von der Politik vorgegeben und von Leitmedien, allen voran dem Spiegel, unkritisch verbreitet werden. Ein Mitglied der „Freien Syrischen Armee“ (FSA) berichtete ihm, dass alleine in seinem Umfeld 20 alawitische „Kollaborateure“ durch Kopfschuss oder Durchschneiden der Kehle hingerichtet worden seien. In Homs war Todenhöfer mit einem sunnitischen Ingenieur namens Sharif unterwegs, der sich selbst zwischen den Fronten verortet.
Zu Beginn des Aufstands habe die Regierung schwere Fehler gemacht und auf friedliche Demonstranten geschossen, so der Ingenieur. Allerdings sei die Rebellion von Anfang an bewaffnet gewesen. „Mindestens die Hälfte“ der Toten gehe auf das Konto der FSA, darunter auch Frauen und Kinder. Alawitische und schiitische Zivilisten würden in Homs „gnadenlos gefoltert“. Die westliche Berichterstattung stelle die Dinge auf den Kopf, erklärt der Syrer seinem deutschen Begleiter.
Bestätigung für diese Aussage fand Todenhöfer in einem Damaszener Flüchtlingsheim. Dort „haben wir völlig gebrochene Menschen getroffen, die von Homser Rebellen bestialisch gequält und verletzt wurden.“
Auch der griechisch-katholische Patriarch Gregorios III kritisierte die westliche Berichterstattung. Das Miteinander von Christen, Sunniten, Schiiten, Alawiten, Drusen und Ismaeliten sei ein hoher demokratischer Wert, so der Kirchenführer gegenüber Todenhöfer. Der vom Ausland unterstützte Aufstand sei eine existentielle Bedrohung dieses Miteinanders. Der Westen müsse aufhören, den Konflikt anzuheizen.
Die Mehrheit der Bevölkerung stehe hinter Präsident Assad. Der Patriarch staune über die „schablonenhaft“ falsche Berichterstattung der ausländischen Medien. Vieles sei frei erfunden, gibt Todenhöfer die Einschätzung seines Gesprächspartners wieder.

Zunehmender Terror gegen Christen


In den vergangenen Wochen häuften sich die von den Massenmedien zumeist ignorierten Meldungen über die Verbrechen der „Freiheitskämpfer“. Das Presseorgan der Päpstlichen Missionswerke zitiert einen geflohenen Christen, der darüber berichtet, wie Christen ermordet oder verschleppt und gefoltert würden, weil „sie nicht in den Reihen der Revolutionäre kämpfen wollten“.
Auch die Äbtissin des Ordens der heiligen Thekla berichtete von Drohungen gegenüber Christen, „die sich nicht auf die Seite der ‚Revolution’ stellen wollten“. Tausende Christen seien aus Homs und dem ebenfalls an der libanesischen Grenze gelegenen Qusair geflohen.
Ende März berichtete die Christian Post, dass bereits 90 Prozent der Christen aus Homs vertrieben worden seien. (7) Das deckt sich mit der Aussage von Silvanus Petros Al-nemeh, dem Erzbischof von Homs und Hama. 50 000 Christen, auch er selbst, hätten Homs verlassen. „Wir befürchten ein Szenario wie im Irak, wo viele Christen bedroht und getötet werden, auf der Flucht sind oder sich nicht mehr auf die Straße trauen”, so der Erzbischof. Die Lage sei katastrophaler, als man sich vorstellen könne.
Vor Tagen berichtete die US-Zeitung Miami Herald, dass sich die ganze Region zwischen dem nördlich gelegenen Jisr al-Shughour-Gebirge und der südlich davon gelegenen Stadt Salhab unter Kontrolle der Aufständischen befinde.
Die Region diene als Rückzugsgebiet, von dem aus Angriffe auf angrenzende und bislang von den Unruhen verschonte Gebiete gestartet würden. Der sichere Rückzugsort erlaube es den „Rebellen“, Waffen herzustellen beziehungsweise ins Land zu schmuggeln, sowie Menschen gefangen zu halten.
„Die Armee kontrolliert nur das Gebiet direkt unter ihren Panzern“, wird Mohanned al-Masri zitiert, ein Mitglied der salafistischen Gruppe Ahrar al-Sham, die den Hauptteil der Kämpfer in al-Haffa stelle. „Hier ist das Regime bereits gefallen.“
Wie es in diesen „befreiten“ Zonen um die Menschenrechte bestellt ist, lässt ein Augenzeugenbericht erahnen, der auf dem ansonsten regimekritischen Webportal syriacomment wiedergegeben wird, das von Joshua Landis, dem Direktor des Center of Middle Eastern Studies, betrieben wird: „Mehr als 40 junge Männer (darunter eine Anzahl von Ärzten) aus dem Wadi-Gebiet wurden von den bärtigen Männern getötet, die uns so eifrig die Demokratie bringen wollen. In einigen Fällen enthaupteten sie die Getöteten und trennten Körperteile ab. In einem Fall gaben sie der Familie den Körper zurück, behielten jedoch den Kopf und stellten ihn sichtbar auf einem Hügel auf. Sie standen in mehreren hundert Metern Entfernung und bedrohten jeden der kam, um ihn aufzuheben. Endlich kam ein Mann mit seinem Ladewagen in hoher Geschwindigkeit und schnappte sich unter Beschuss den Kopf.(...)
Die Militanten fahren permanent durch die Gegend und geben Schüsse in die Luft ab oder zeigen ihre Waffen.(...) Kirchen werden von innen demoliert. Was wertvoll ist, wird gestohlen. Sachen von geringem Wert werden auf die Straße geworfen und zerstört.“
Der kürzlich aus Syrien zurückgekehrte französische Bischof Philip Tournyol Clos fand klare Worte: „Der Frieden in Syrien wäre möglich, wenn alle die Wahrheit sagen würden. Ein Jahr nach Beginn des Konflikts ist die tatsächliche Lage im Land weit von dem entfernt, was die westlichen Medien darzustellen versuchen“.
Homs sei zu einer „Märtyrer-Stadt“ geworden. Die Opposition habe die beiden Stadtviertel, in denen sich alle Kirchen und Bischofsresidenzen befinden, besetzt. Eine Kirche sei von ihnen okkupiert worden, während die Kirche Mar Elian zur Hälfte zerstört worden sei. Alle Christen seien geflohen oder hielten sich in der Umgebung versteckt. Die „Rebellen“ seien von Katar und Saudi-Arabien mit schweren Waffen ausgerüstet worden.
„In der Hauptstadt hat man Angst vor Autobomben und Selbstmordattentaten. Gegenwärtig versucht man das Land durch den Einsatz von Abenteurern zu destabilisieren, die zu Bluttaten bereit sind, bei denen es sich aber nicht um Syrier handelt. Darauf hatte auch der ehemalige französische Botschafter, Eric Chevalier hingewiesen, dessen Informationen jedoch abgelehnt wurden, sowie viele andere Informationen gefälscht werden, um damit den Krieg gegen Syrien zu schüren“, so der französische Bischof gegenüber Fides, dem Presseorgan der Päpstlichen Missionswerke.

„Sunnitische Salafisten“, so der Bischof weiter, „verüben kriminelle Übergriffe auf Zivilisten und zwingen einfache Bürger in ihren Reihen zu kämpfen. Fanatische Extremisten kämpfen einen heiligen Krieg gegen Alawiten. Alawiten haben dabei keine Überlebenschance“. Alleine in der letzten Mai-Woche seien in Damaskus 130 Menschen (davon 38 Christen) bei Attentaten getötet worden.
Auch das Massaker in al-Hula am 25. Mai, bei dem 108 Menschen getötet wurden, darunter viele Frauen und Kinder, geht offenbar auf das Konto salafistischer Terroristen. Syrische Oppositionelle konnten, so die FAZ in der vergangenen Woche, aufgrund „glaubwürdiger Zeugenaussagen den wahrscheinlichen Tathergang in Hula rekonstruieren. Ihr Ergebnis widerspricht den Behauptungen der Rebellen, die die regimenahen Milizen Schabiha der Tat beschuldigt hatten.(...)
Getötet worden seien nahezu ausschließlich Familien der alawitischen und schiitischen Minderheit Hulas, dessen Bevölkerung zu mehr als neunzig Prozent Sunniten sind. So wurden mehrere Dutzend Mitglieder einer Familie abgeschlachtet, die in den vergangenen Jahren vom sunnitischen zum schiitischen Islam übergetreten sei. Getötet wurden ferner Mitglieder der alawitischen Familie Shomaliya und die Familie eines sunnitischen Parlamentsabgeordneten, weil dieser als Kollaborateur galt. Unmittelbar nach dem Massaker hätten die Täter ihre Opfer gefilmt, sie als sunnitische Opfer ausgegeben und die Videos über Internet verbreitet.“
„Allein 60 Personen gehörten einer Familie an die als regimetreu galt“, schrieb die Frankfurter Rundschau am Wochenende und wies darauf hin, dass die Bundesregierung über Informationen verfüge, denen zufolge Präsident Assad auf die Nachricht des Massakers „überrascht reagiert“ habe.
Das hielt die deutsche Regierung – im Verbund mit den westlichen Partnern – allerdings nicht davon ab, einseitige Schuldzuweisungen Richtung Assad auszusprechen und den syrischen Botschafter des Landes zu verweisen. Obwohl die Faktenlage gegen die These spricht, Regierungskräfte stünden hinter dem Massaker und auch die UN-Beobachter mit ihrer Untersuchung vor Ort nicht zur Erhärtung dieser These beitragen konnten, wird das Verbrechen propagandistisch ausgeschlachtet, um Akzeptanz für eine militärische Intervention zu generieren. Vorläufiger Höhepunkt der medialen Mobilmachung war die Anne Will-Sendung in der ARD vergangenen Woche, in der unter dem Titel „Assad lässt Kinder töten – wie lange wollen wir noch zuschauen? “ für den militärischen Einsatz gegen Syrien getrommelt wurde.
Die Reaktion des Westens auf das Massaker in al-Hula müssen die verantwortlichen Terroristen geradezu als Aufforderung verstehen, weitere grausame Bluttaten zu begehen. Denn der von den Massakern ausgehende Nutzen für die bewaffnet kämpfenden „Rebellen“ liegt auf der Hand. Außenpolitisch erhöhen sie den Druck auf das Assad-Regime. Innenpolitisch erzeugen sie Angst und Schrecken unter den politischen Gegnern, tragen zu Destabilisierung des Landes bei und offenbaren die Handlungsunfähigkeit des Staates, die eigenen Bürger nicht vor Terroristen schützen zu können.
Wie berechnend die „Rebellen“ in Bezug auf die westliche Berichterstattung vorgehen, schilderte jüngst der britische Journalist Alex Thomson. Sie hätten ihn und seine Begleiter in Qusair gezielt in eine Falle laufen lassen in der Hoffnung, dass sie von Regierungstruppen unter Beschuss genommen werden. „Denn tote Journalisten sind schlecht für Damaskus“, so Thomson.
Vergangene Woche kam es erneut zu einem Massaker. In dem Dorf Masraat-al-Kubeir seien laut Angaben der Opposition fast 80 Menschen getötet worden. Opposition und Regierung weisen sich gegenseitig die Schuld zu.
„Stellt man allerdings die Frage, welche Seite ein Interesse an der weiteren Eskalation des Konfliktes hat, dann ergibt sich die Antwort fast wie von selbst. Es sind die von den NATO-Staaten und der arabischen Reaktion bewaffneten und trainierten Terrorbanden der sogenannten „Freien Syrischen Armee“, die sich von UN-Friedensplänen und Waffenstillständen nicht weiter aufhalten und eine Entscheidung der Machtfrage gewaltsam erzwingen wollen.(...)
Die unschwer als Provokationen zu erkennenden Massaker sollen das Fanal zum blutigen Finale bilden. Mit dem Sturz des Assad-Regimes erhofft sich der Westen, eine von der Hisbollah bis zum Iran reichende regionale Gegenhegemonie zu seiner Vorherrschaft bereits im Ansatz unterbinden zu können. Als natürliche Verbündete der Hegemonialmächte erweisen sich die reaktionären Ölmonarchien, die, aufgeschreckt von den Umbrüchen in der arabischen Welt, mit allen Mitteln einen Machtwechsel in Damaskus anstreben, um die tradierten Herrschaftsverhältnisse in der Region gegen revolutionäre Veränderungen zu schützen“, so ein Kommentar in der jungen Welt.
Die Zeitung zitiert Sergej Demidenko vom Institut für strategische Einschätzungen und Analyse: „Die Islamisten und die Monarchen des Persischen Golfs werden versuchen, Al-Assad endgültig zu zerschlagen, weil er vorläufig die einzige Kraft ist, die in der arabischen Welt noch ihr Opponent ist.“ Dazu diene auch der gegen Syrien entfesselte „psychologische Krieg“.
Bestandteil dieser psychologischen Kriegsführung ist auch, die Verbrechen der Anti-Assad-Kämpfer und die „andauernde ethnische Säuberung“ – so bezeichnet mittlerweile die syrische Orthodoxe Kirche das Treiben der vom Ausland finanzierten Mörderbanden – zu verschweigen oder der syrischen Staatsgewalt anzulasten.
Eine Säuberung, die – zumindest indirekt – auch vom deutschen Steuerzahler bezahlt wird. Denn die Bundesregierung finanziert gemeinsam mit den Vereinigten Arabischen Emiraten das als Anlaufstelle dienende Berliner Büro der „Freunde des syrischen Volkes“.
Zu den vorgeblichen Freunden Syriens zählen neben den USA auch die Golfdiktaturen, die die islamistischen Kämpfer mit dreistelligen Millionenbeträgen unterstützen und die ganz gewiss kein Interesse an einer wirklich demokratischen Entwicklung Syriens haben.
Die politische Schizophrenie, einerseits den Terror gegenüber Christen in Nigeria zu verurteilen und die dortigen Behörden zum „konsequenten Vorgehen“ aufzufordern, andererseits in Syrien denjenigen Kräfte mit aller Gewalt zur Macht zu verhelfen, die solchen Terror ausüben, entlarvt die „Freunde Syriens“ als Feinde der syrischen Bevölkerung, die unter der zunehmenden und sich gegenseitig hochschaukelnden Gewalt zu leiden hat."

Quelle: http://www.hintergrund.de/201206122104/politik/welt/zweierlei-mass-syrien-und-die-deutsche-aussenpolitik.html

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