"Auf seiner Durchreise in Damaskus hat der Sondergesandte der Generalsekretäre der Arabischen Liga und der UNO, Lakhdar Brahimi, „sein“ Projekt der Friedenskonferenz Genf 2
vorgestellt. Eine Konferenz, deren Ziel wäre, dem “Bürgerkrieg” ein
Ende zu setzen. Dieser Begriff greift wieder die Analyse von einem Lager
gegen das andere auf, von jenen, die behaupten, dass dieser Konflikt
eine logische Erweiterung des “Arabischen Frühlings” sei, gegen jene, die behaupten, dass es fabriziert, geschürt und von außen manipuliert wurde.
Der Krieg aus Sicht der bewaffneten Opposition
Für den Westen und den Großteil der Nationalen Koalition macht Syrien eine
Revolution durch. Sein Volk hat sich gegen eine Diktatur erhoben und
wünscht nichts sehnlicher, als in einer Demokratie wie in den Vereinigten Staaten zu leben. Allerdings wird diese Sicht der Dinge durch den Golf-Kooperationrat [GCC], den Syrischen Nationalrat und die Freie Syrische Armee [FSA] widerlegt. Für sie liegt das Problem nicht in der Freiheit, sondern in der Persönlichkeit von Baschar Al-Assad.
Sie würden sich mit denselben Institutionen begnügen, wenn der
Präsident akzeptierte, seinen Platz einem der Vizepräsidenten der
Kommission abzutreten. Diese Version wird jedoch ihrerseits von den
Kriegern auf dem Boden zurückgewiesen, für die das Problem nicht in der
Persönlichkeit des Präsidenten liegt, sondern in der Toleranz, die er
verkörpert. Ihr Ziel ist ein Regime wahhabitischer Prägung, in dem
religiöse Minderheiten unterworfen oder zerstört würden und in dem die
Verfassung durch die Scharia ersetzt würde.
Meinungsfreiheit
Am Anfang, als
Scharfschützen Leute umbrachten, wurde gesagt, es wären Schützen des
Regimes, die versuchten, Panik zu verbreiten. Als Autos explodierten,
hieß es, es handle sich um Attentate unter falscher Flagge der
Geheimdienste. Als in einem gigantischen Attentat Mitglieder des Sicherheitsrates ums Leben kamen, wurde Baschar Al-Assad beschuldigt, seine Rivalen beseitigt zu haben. Heute zweifelt niemand mehr daran: diese Verbrechen waren das Werk von Dschihadisten und sie hören auch nicht auf, diese weiter zu begehen.
Zu Beginn gab es das Notstandsgesetz. Seit 1963 waren die
Demonstrationen verboten. Ausländische Journalisten konnten nur
tröpfchenweise einreisen und ihre Aktivitäten wurden genau überwacht.
Heute ist das Notstandsgesetz aufgehoben. Es gibt immer noch wenige
Demos, weil man terroristische Anschläge befürchtet. Viele ausländische
Journalisten sind in Damaskus. Sie bewegen sich frei
ohne Aufsicht. Die meisten erzählen noch immer, dass das Land eine
schreckliche Diktatursei. Man lässt sie in Ruhe, in der Hoffnung, dass
sie der Lügen müde würden, wenn ihre Regierungen nicht mehr den “Sturz
des Regimes“ predigen.
Am Anfang schauten die Syrer nicht die nationalen Fernsehsender. Sie betrachteten sie als Propaganda und bevorzugten Al-Dschasira.
Somit folgten sie live den Heldentaten der “Revoluzzer” und den
Verbrechen der “Diktatur”. Aber im Laufe der Zeit wurden sie direkt in
die Ereignisse verstrickt. Sie sahen mit eigenen Augen die Gräueltaten
der Pseudo-Revolutionäre und oft verdankten sie ihre Rettung nur der
nationalen Armee. Heute wählen die Menschen viel mehr das nationale
Fernsehen und vor allem einen Libanesisch-irakischen Kanal namens Al-Mayadeen,
der das Publikum in der gesamten arabischen Welt von Al-Dschasira
gewonnen hat und der eine offene nationalistische Perspektive
entwickelt.
Gewissensfreiheit
Am Anfang bezeichnete sich die bewaffnete Opposition als
multi-konfessionell. Menschen aus religiösen Minderheiten unterstützten
sie. Dann kamen die islamischen Gerichte, welche die “schlechten”
Sunniten, “Verräter” ihrer Gemeinschaft, zum Tode verurteilten und ihnen
den Hals abschnitten. Sie folterten öffentlich Alewiten und die
Schiiten und vertrieben die Christen aus ihren Häusern . Heute hat jeder
verstanden, dass man immer ketzerisch ist, wenn man von den “Reinen”,
von Takfiristen, verurteilt wird.
Während Intellektuelle behaupten, dass Syrien zerstört wurde und dass man es neu definieren müsste, wissen die Leute, was Syrien
wirklich ist und sind oft bereit, für das Land zu sterben. Vor zehn
Jahren hatte jede Familie einen Jungen, für den sie alles versuchte, um
ihm den Militärdienst zu ersparen. Nur die Armen erwogen, unter der
Fahne Karriere zu machen. Heute engagieren sich viele junge Leute in der
Armee und die älteren in den Volks-Milizen. Alle verteidigen das ewige Syrien, wo verschiedene religiöse Gemeinschaften in Berührung kommen und sie alle den gleichen Gott anbeten, wenn sie einen haben.
Während des Konflikts haben viele Syrer sich selbst weiter
entwickelt. Zunächst beobachteten sie zum Großteil die Ereignisse aus
der Ferne und behaupteten, sich in keinem Lager zu erkennen. Nach
zweieinhalb Jahren fürchterlichen Leidens mussten diejenigen, die im
Land geblieben waren, wählen, um am Leben zu bleiben. Der Krieg ist nur
mehr ein Versuch der Kolonialmächte, die Glut des Obskurantismus zu
schüren, um die Zivilisation zu verbrennen.
Politische Freiheit
Für mich, der Syrien seit zehn Jahren kennt und seit zwei Jahren in Damaskus lebt, hat sich das Land sehr verändert. Vor zehn Jahren erzählte jeder flüsternd seine Probleme, die er mit den Mukhabarats hatte, die sich in alles und jedes einmischten. In diesem Land, dessen Golan von Israel
besetzt ist, hatte der Geheimdienst in der Tat eine extravagante Macht
erworben. Aber er hat nichts gesehen und wusste nichts von der
Vorbereitung des Krieges, von den Tunneln, die gegraben wurden und den
Waffen, die man einschmuggelte. Heute ist eine große Anzahl von
korrupten Offizieren ins Ausland geflohen, und die Mukhabarats haben sich auf ihre Mission des Heimatschutzes konzentriert: nur die Dschihadisten beklagen sich darüber.
Vor zehn Jahren war die Baath-Partei
verfassungsrechtlich Führer der Nation. Sie allein durfte Kandidaten bei
den Wahlen stellen, aber sie war schon keine Massen-Partei mehr. Die
Behörden bewegten sich allmählich von den Bürgern weg. Heute ist es
schwer, den zahlreichen Geburten von neuen politischen Parteien zu
folgen. Jede kann an den Wahlen teilnehmen und gewinnen. Nur die
“demokratische” Opposition hat von Paris und Istanbul aus beschlossen, sie zu boykottieren, anstatt sie zu verlieren.
Vor zehn Jahren sprach niemand über Politik in den Cafés, nur
zuhause, mit Menschen die man kannte. Heute spricht jeder über Politik,
überall, in den von der Regierung kontrollierten Gebieten und niemals in
jenen, die von der bewaffneten Opposition kontrolliert sind.
Wo ist die Diktatur? Wo ist die Demokratie?
Klassen-Reaktionen
Der Krieg ist auch ein Klassen-Konflikt. Die Reichen, die Vermögenswerte im Ausland haben, sind verschwunden, als Damaskus angegriffen
wurde. Sie liebten ihr Land, aber schützten vor allem ihr Leben und ihr
Eigentum. Die Bourgeoisie war terrorisiert. Sie zahlten „revolutionäre
Steuern“, wenn die Aufständischen sie forderten, und behaupteten, den
Staat zu unterstützen, wenn die Armee sie verhörte. Besorgt warteten sie
auf den Rücktritt von Präsident Al-Assad, den Al-Dschasira als unmittelbar bevorstehend angekündigt hatte. Sie kamen aus ihrer Angst erst heraus, als die USA
aufgaben, das Land zu bombardieren. Heute denken sie nur daran, alles
wieder gut zu machen, und finanzieren die Familien-Verbände der
Märtyrer.
Die kleinen Leute wussten ja von Anfang an, worum es ging. Es gab
jene, die im Krieg ein Mittel sahen, um Rache an ihrer wirtschaftlichen
Lage zu nehmen, und diejenigen, die die Gewissensfreiheit und die
kostenlosen öffentlichen Dienste verteidigen wollten.
Die USA, Israel, Frankreich, Großbritannien, die Türkei, Katar und
Saudi-Arabien, die diesen geheimen Krieg geführt und verloren haben,
haben dieses Ergebnis nicht vorausgesehen: um zu überleben, hat Syrien seine Energien entfaltet und seine Freiheit wiedererlangt.
Falls
die Genf 2-Konferenz stattfindet, werden die Großmächte nichts
entscheiden können. Die kommende Regierung wird nicht das Ergebnis einer
diplomatischen Vereinbarung sein. Die einzige Möglichkeit der Konferenz
wird sein, eine Lösung vorzuschlagen, die nur angewendet werden kann,
wenn sie zuerst per Volksabstimmung ratifiziert worden ist.
Dieser Krieg hat Syrien ausgeblutet, die Hälfte der
Städte und der Infrastruktur sind zerstört worden, um den Appetit und
die Fantasien der westlichen Mächte und der Golfstaaten zu stillen. Wenn
etwas Positives aus Genf 2 entstehen sollte, wäre es die Finanzierung des Wiederaufbaus durch diejenigen, die das Land ins Unheil gestürzt haben."
Quelle: http://german.irib.ir/component/k2/item/231240-syrien-hat-sich-gewandelt-%E2%80%93-von-thierry-meyssan
Präsident Assad hat seinen Rücktritt nicht zurück
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