EurActiv.de: Warum ist der syrische Präsident Baschar al-Assad nicht schon längst gestürzt worden?
ABDOLVAND: Es scheint so, als hätten die Regierungstruppen in der Auseinandersetzung mit den Aufständischen die Oberhand gewonnen.
EurActiv.de: Woraus schließen Sie das?
ABDOLVAND: Hierfür sprechen einige Indizien:
Die Freie Syrische Armee (FSA) musste sich offenbar aus der zweitgrößten
Stadt des Landes, Aleppo, und aus ihrer Hochburg Homs weitestgehend
zurückziehen. Das israelische Nachrichtenportal Debka berichtet, die
Zahl der Rebellen sei zu niedrig, um Assad besiegen zu können.
Tatsächlich haben von 630.000 Soldaten bis jetzt nur 50.000 Soldaten –
hauptsächlich sunnitischen Glaubens – das Lager von Assad verlassen, um
sich der Opposition anzuschließen. Hingegen haben erst vor kurzem 20.000
neue Soldaten den Militärdienst für Assad angetreten. Vieles deutet
darauf hin, dass es um die Lage der Rebellen schlecht bestellt ist.
"Westen versteht den Konflikt nicht"
EurActiv.de: Wie konnte es trotz
massiver Unterstützung der Aufständischen aus Europa und den USA sowie
des Golf-Kooperationsrats (GCC) und der Türkei dazu kommen?
ABDOLVAND: Nachdem im Zuge der NATO-
beziehungsweise US-Einsätze auf dem Balkan, in Afghanistan und im Irak
die Gegebenheiten vor Ort grundlegend missverstanden wurden, wiederholt
sich in Syrien offenbar die Geschichte. Der Westen versteht den Konflikt
nicht.
EurActiv.de: Was verstehen wir denn nicht?
ABDOLVAND: Hafez al-Assad, Vater des heutigen
Präsidenten, gelang es, den ethnisch-religiösen Mix des Landes zu
seinen Gunsten zu nutzen. So steht das System von Vater und Sohn Assad
für eine Balance zwischen sunnitischer Bevölkerungsmehrheit und der
Vielzahl von Minderheiten einschließlich Christen, Kurden, Alawiten,
Schiiten, Jesiden, Juden und Drusen.
Darüber hinaus gehört ein nicht unbedeutender Teil
der etwa 60 Prozent sunnitisch-arabischen Syrer zu Anhängern eines
säkularen Staates, die hauptsächlich in der Bath-Partei organisiert
sind, die sich als säkulare arabische Nationalisten sehen und nicht als
Anhänger eines islamischen Staates und die in diesem Sinne von der
Kooperation mit dem Assad-System profitieren.
Dies erklärt, warum die Aufständischen in Syrien –
im Gegensatz zu den Revolutionären Ägyptens und Tunesiens – nicht
ausreichend Unterstützung aus den Reihen der Bevölkerung erhalten, um
Assads Regime zu stürzen. Die Visionen von "Freier Syrischer Armee"
(FSA), Muslimbrüdern und al-Qaida finden nicht den gewünschten Widerhall
bei der breiten Masse der Syrer.
EurActiv.de: Aber die ganze Welt bis auf wenige Staaten sind doch auch gegen Assad...
ABDOLVAND: Das täuscht. Auch international
ist Assads Herrschaft fester verwurzelt als gemeinhin angenommen. Es ist
bei weitem nicht nur der Iran, der ein fundamentales Interesse am
Erhalt des Assad-Systems hat. China und insbesondere Russland verstehen
die Demokratisierung Syriens schlicht als Versuch der Etablierung eines
prowestlichen Regimes.
Auch die USA und Europa sind in Bezug auf die
Unterstützung der Rebellen nicht entschlossen, da sich sehr viele
al-Qaida Anhänger auf die Seite der Rebellen geschlagen haben.
Interessanterweise hat ein weiterer Staat ein starkes Interesse am
Verbleib Assads: Israel.
EurActiv.de: Was sind die Gründe?
ABDOLVAND: Nach der Machtübernahme in Kairo
möchten die Muslimbrüder den ägyptisch-israelischen Friedensvertrag
"überprüfen". Ebenso sprach ein führender Kader der ägyptischen
Muslimbrüder im Rahmen der Ernennung Mohammed Mursis zum Präsidenten
davon, sich für die "Vereinigten Staaten von Arabien mit Jerusalem als
Hauptstadt" einsetzen zu wollen.
Es ist offensichtlich, warum Israel angesichts
solcher Worte kein Interesse an einem Sieg der Muslimbrüder in Damaskus
haben kann – zumal deren jordanischer Ableger ebenfalls vermehrt aktiv
wurde.
Israels potenzieller Nutzen an einem Machterhalt
Assads wird auch dadurch deutlich, dass beide Staaten vor Beginn des
Aufstands offenbar über einen Friedensvertrag im Austausch für die
Golanhöhen verhandelten. Mit von Ankara und Kairo gestützten
Muslimbrüdern wäre eine solche Übereinkunft unmöglich. Schließlich
dürfte die mittel- bis langfristig mögliche Einkreisung durch
Regierungen der Muslimbruderschaften in Ägypten, Jordanien und Syrien in
Israel wenig Freude hervorrufen.
EurActiv.de: Das heißt: Assad kann sich noch lange halten?
ABDOLVAND: Ja, denn unabhängig voneinander
versuchen sowohl der Iran als auch Israel einen Sturz Assads zu
verhindern. Die Konvergenz ihrer Interessen zeigt sich in der Türkei,
die sich als Dreh- und Angelpunkt der internationalen Unterstützung der
syrischen Aufständischen versteht.
Es gibt Anzeichen, dass sowohl Tel Aviv als auch
Teheran die kurdische PKK unterstützen, die in den vergangenen Monaten
vermehrt Anschläge in der Türkei verübte.
Abgesehen davon soll die Entschlossenheit Russlands
nicht unterschätzt werden. Ihre einzige Militärbasis in Mittelmeerraum
ist der Hafen Tartus. Im Falle einer oppositionellen Machtübernahme wird
Russland mit Sicherheit in Tartus den Militärposten verlassen müssen.
Dies wird Russland unter keinen Umständen hinnehmen.
Das zeigt die jüngste massive Marinepräsenz vor der
Küste Syriens, nachdem die NATO ihre Patriot-Raketen im Süden der Türkei
stationiert hat. Tartus ermöglicht Russland eine Präsenz in der
Südflanke der NATO im Mittelmeerraum und garantiert die freundliche
Gesinnung der Türkei bezüglich des Bosporus und den Dardanellen.
"Ein weiteres Land der Region zu Tode demokratisieren?"
EurActiv.de: Was verspricht sich denn Europa vom Sturz des syrischen Diktators?
ABDOLVAND: Das ist die große Frage. Im
unwahrscheinlichen Fall, dass Assad gewaltsam gestürzt werden sollte,
droht Syrien anstelle einer Demokratisierung die Balkanisierung – ein
Aufbrechen des Staates verbunden mit interreligiösen und interethnischen
Konflikten. Die Minderheiten würden ein von arabischen Sunniten
dominiertes, islamisches Staatsmodell nicht hinnehmen. Nach den
fehlgeschlagenen Unternehmungen in Afghanistan und im Irak würde der
Westen ein weiteres Land der Region zu Tode demokratisieren.
EurActiv.de: Wäre es also besser, Assad zu unterstützen, statt zu stürzen?
ABDOLVAND: Angesichts dessen kann der
militärisch gestützte Versuch, eine Demokratisierung Syriens zu
erreichen, bereits jetzt als gescheitert betrachtet werden. Doch es geht
bei weitem nicht um Syrien allein.
Wie würde es um die Sicherheit Israels bestellt
sein, wenn in Kairo und Damaskus Muslimbrüder das Sagen hätten? Was
würden zwei autonome Kurdengebiete im Irak und in Syrien für die Türkei
bedeuten? Erwarten wir ernsthaft, dass Iran und Russland den Verlust
eines Verbündeten ohne Revanche hinnehmen würden? Was gedenken wir zu
tun, wenn plötzlich in Istanbul, Riad oder Doha Bomben hochgehen?
Falls es auf diese Fragen Antworten gibt, hat sie bislang noch kein europäischer Politiker ausgesprochen.
Das libanesische Modell
EurActiv.de: Was ist Ihre Empfehlung? Ihr Rat?
ABDOLVAND: Die einseitige Unterstützung der
Aufständischen in Syrien heizt einen Konflikt an, der sich zu einem
regionalen Flächenbrand entwickeln kann – unabhängig von der Frage, ob
Assad bleibt oder nicht. Aus dieser Lage gibt es keinen einfachen
Ausweg. Lediglich eine Notlösung scheint Syrien und die Region vor
Schlimmerem bewahren zu können: das libanesische Modell.
Dabei würden den verschiedenen Konfessionen und
Ethnien bestimmte Verantwortlichkeiten im Staat per Verfassung
garantiert. Assad könnte einem solchen System als Präsident vorstehen.
Die Vielzahl von Minderheiten würde geschützt und gleichzeitig wäre der
arabisch-sunnitischen Bevölkerungsmehrheit zu mehr Repräsentation im
Staat verholfen.
EurActiv.de: Und Europa?
ABDOLVAND: Europa kann und sollte sein
Gewicht zu einer Entschärfung des Syrienkonflikts einsetzen. Damit wäre
nicht nur Syrien am meisten geholfen. Das Verhindern eines regionalen
Flächenbrands sollte im Interesse aller Beteiligten sein."
("Dr. Behrooz Abdolvand (geboren 1956) arbeitet seit 1998
am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin. Er ist Dozent für internationale
Beziehungen und Berater im Energiesektor.")
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