Mittwoch, 6. Juni 2012

Augenzeugenbericht einer seit 40 Jahren in Syrien lebenden Engländerin


Sehr geehrte Damen und Herren,
                Ich lebe seit mehr als 40 Jahren in Syrien, als Christ in einer moslemischen Familie. Aber ich habe mich noch nie so bedroht gefühlt. Es gab viele schwierige Zeiten, Krieg, Differenzen zwischen der syrischen und der britischen Regierung, aber ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der die Handlungen des Landes, das ich immernoch Heimat nenne, so peinlich beeinträchtigt gewesen sind.
                Syrien ist kein sehr gut regiertes Land und die meisten Menschen beschweren sich über die verschiedenen Geheimdienste und deren Macht, aber für nahezu alle ist die ganze Zeit über das Leben sicher gewesen. Ich bin spät in der Nacht durch eine 5-Millionen-Stadt gelaufen ohne einen Gedanken daran, dass es unsicher sein könnte. Die verschiedenen moslemischen und christlichen Glaubensrichtungen haben auf ihre eigene Art und Weise und an ihren eigenen Plätzen ihre Religion ausgeübt, mit nur wenig Kontrolle. Auch die Synagoge, die jetzt verlassen ist, wurde vor Beschädigung geschützt und das Land, das von seinen jüdischen Bewohnern verlassen wurde, wartet darauf, dass sie sie irgendwann zurückfordern.
                Es scheint mir, die derzeitige Hasskampagne wurde gestartet, als der libanesische Führer Rafiq Hariri vor einigen Jahren getötet wurde. Es musste Syriens Schuld sein, obwohl er viel Zeit in Damaskus verbrachte und ein Haus dort besaß. Die Amerikaner riefen und schrien, die Syrer müssten vor Gericht gestellt werden und erst als Beweise, die vorher ignoriert wurden, der Weltöffentlichkeit zugänglich wurden – dass die Amerikaner selber, mit israelischer Hilfe, daran beteiligt waren – wurde das Thema stillschweigend fallengelassen.
                Die Grundlage von Demokratie, so wurde es mir beigebracht, ist eine freie Presse, und Syrien beginnt erst jetzt, dies zu bekommen. Aber wie frei sind ihre eigenen Informationen? Die offiziellen syrischen Nachrichtensender wurden von Nilsat und Arabsat verbannt – so wird niemand in der arabischen Welt in der Lage sein, die offizielle syrische Sichtweise zu erfahren. Europa hat Syrien auf Hotbird, aber die Nachrichten auf dem arabischen Dienst der BBC zensieren gewöhnlich alles, was die Regierung herausgibt. Andererseits wird oppositionsnahen Programmen freier Lauf im Äther gegeben, obwohl ihr Inhalt oft extrem umstritten und häufig ungenau ist. Ich habe Berichte über Oppositionsdemonstrationen gesehen, die eigentlich Fotos von  Pro-Regierungs-Demonstrationen zeigten und Berichte, die angeblich aus Nordsyrien waren – wo es ein unglaublich nasses Jahr gab –, die scheinen in irgendeiner Wüste aufgenommen worden zu sein. Die Nachrichten, die als Wahrheit von BBC World News übernommen werden, sind diesertage so voreingenommen, dass ich überhauptnichts mehr glaube, was sie über irgendetwas sagen – nach über 60 Jahren Wahrheit.
                Syrien braucht sicherlich Demokratie, aber die meisten Menschen, mit denen ich gesprochen habe, von Freunden über Reinigungskräfte, Fabrikarbeiter und Taxifahrer, sehnen sich im Moment nach einer starken Führungspersönlichkeit, einem „Vater für sein Volk“. Wie die Mehrheit in England, wenn sie das Leben etwas leichter für sich und ihre Familien sehen können, machen sie sich wirklich nicht zu viele Sorgen über das System, solange wie es sie fair behandelt.
                In den letzten Jahren gab es viele Verbesserungen in der Lebensweise und dem Lebensstandart vieler arbeitenden Menschen. Ein großer Fortschritt ist die Reduzierung der Korruption bei der Polizei und den Justizbehörden und die Beschneidung der Befugnisse der Sicherheitsdienste. Ein weiterer Fortschritt war – bis zu dem derzeitigen Konflikt – das massive Wachstum im Tourismusbereich in Syrien, was Tausende, vielleicht Hunderttausende von Menschen auf die eine oder andere Weise Arbeit geboten hat. Das ist zum Leidwesen vieler Familien natürlich jetzt weggefallen. Die Tragödie hier ist eine doppelte. Die Bevölkerung hat sich in etwa 35 Jahren mehr als verdreifacht (wie würde Großbritanien soetwas managen?) und niemand hat sich viel Mühe gegeben, das System fair zu halten. Der Präsident wird im Westen viel wegen der Begünstigung seines Stammes kritisiert, aber ich möchte darauf hinweisen, dass viele Menschen in seiner Regierung keine Alawiten sind, obwohl es auch viele gibt, und er zunehmend an der Spitze einer Regierung von Technokraten steht.
                Der traurigste Teil der gegenwärtigen Ereignisse ist für mich, wie zwei andere arabische Staaten, Saudi-Arabien und Qatar, ermutigt werden, Syrien ihre eigenen Formen von Demokratie aufzuzwingen. Wenn man bedenkt, dass die saudische Polizei da anfängt, wo die syrische aufhört, und darauf stolz ist, dass Frauen keinen gleichberechtigten Status haben, dass  die Religionspolizei Macht und Status hat und das jegliche Opposition von der saudischen Armee „fest angepackt“ wird, selbst wenn es im Nachbarland Kuweit ist, kann ich mich über die Naivität der Außenminister nur wundern, die scheinbar das alles dem relativ entspannten Syrien „bescheren“ wollen.
                Die Oppostion, ach ja, die armen, unbewaffneten Rebellen kämpfen gegen die Macht der Syrischen Armee. Hier sind ein paar Fakten, die ich selbst bezeugen kann:
                Vergangenen Sommer wurde ein Geschäftsfreund meines Mannes eingeladen, an einer friedlichen Demonstration nach den Freitagsgebeten in Hama teilzunehmen. Er hatte Angst um seine Sicherheit, aber ihm wurde eine rote Rose gegeben, die er tragen sollte, und es wurde ihm versichert, die ganze Angelegenheit würde ruhig und geordnet ablaufen. Da er viele andere Männer aus der Moschee zusammen mit ihren kleinen Söhnen teilnehmen sah, willigte er ein. Sie gingen ein paar Minuten, die unbewaffnete Polizei beobachtete sie vom Straßenrand aus. Dann zog ein Mann IN SEINER NÄHE eine Schusswaffe hervor und erschoss den nächststehenden Polizisten. Das Ergebnis war ein Aufruhr, mit Todesopfern. Von al-Jazeera als grundloser Angriff der Polizei auf Demonstranten berichtet.
                Ein älterer Mann aus Jisr al-Shoghour, der im Ruhestand war und mit seiner Frau in einer  Erdgeschosswohnung lebte, beschloss, dass es besser wäre, abzuwarten. Das Wetter war heiß, so dass seine Fensterläden geschlossen, die Fenster aber offen waren. Er hörte draußen Leute reden, die keinen syrischen Akzent hatten. Er dachte, sie seien Saudis oder so ähnlich. Es machte ihm nichts aus, in den Händen von Syrern zu sein, aber er war wütend und hatte Angst, sich der Gnade von Ausländern auszusetzen. Deswegen setzte er seine Frau in sein kleines Auto und gab vor, nach Idleb zu wollen, denn sie verweigerten ihm die Erlaubnis, nach Aleppo zu fahren.
                Als die Arabische Friedensmission nach Lattakia kam, bat ein Mann sie, die Rebellen weg zu bringen, da sie das Leben unmöglich machten. Sobald die Beobachter die Stadt verlassen hatten, wurde er von den Rebellen auf einem öffentlichen Platz gehängt – zum Entsetzen eines dort lebenden ausländischen Freundes.
                Es gab mehrere Entführungen in Aleppo und die UNO hat erklärt, sie sei das Werk der Opposition. Es gibt auch wohlbekannte Todeslisten für alle, die in irgendeiner Weise für die Regierung arbeiten. Ich hoffe nur, dieser Brief setzt mich nicht auf eine solche!
                Geschäfte in vielen Teilen Aleppos wurden geschlossen, nachdem die Eigentümer auf den Fensterläden den Schriftzug „schließen oder abgebrannt werden“ gefunden haben.
                Die schrecklichen Ereignisse in Houla, wo Kinder erschossen oder erstochen wurden: So viele Regierungen waren schnell damit, die Syrische Armee zu beschuldigen, aber die UN-Beobachter haben bisher keinen Bericht vorgelegt. Warum nicht warten, bis bekannt ist, was passiert ist?
                Es gibt so viele Fälle, die ich aus meinem eigenen Wissen heraus zitieren kann. Bitte fragen Sie sich selber, ob es in Ihrem Interesse ist, hier ein extremes islamistisches Regime an der Macht zu haben. Den Christen wurde bereits gesagt „Ihr seid die Nächsten“, geschrieben an Kirchenwände in Aleppo und Lattakia.
                Es ist eindeutig richtig, dass es viele schlechte Seiten an der gegenwärtigen Regierung gibt. Aber Dämonisierung des Präsidenten scheint kein nützlicher Weg zu sein, obwohl der Druck auf Syrien im Moment sicherlich dazu beigetragen hat, den internen politischen Prozess in Bewegung zu setzen und aus seinem jahrelangen Trott zu bringen. Vielleicht könnte ein bisschen weniger Hysterie der Außenminister und das alte Sprichwort „Du fängst mehr Fliegen mit Marmelade als mit Essig“ an dieser Stelle hilfreich sein.
                Übrigens, wenn sie in naher Zukunft von dem Tod eines britischen Staatsbürgers in Aleppo hören sollten, wird es daran liegen, dass diese Art von Meinung ausreicht, mich auf eine Todesliste zu setzen – und die wird nicht von der Regierung sein!

                Mit freundlichen Grüßen
                 Angela Formby

 

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