Samstag, 30. Juni 2012

"Assad ist zum Wandel bereit"

"Der Nahostexperte Günter Meyer zeichnet eine Realität des Syrien-Konfliktes, die von westlichen Medienberichten abweicht. Er glaubt weder an einen Durchbruch in Genf noch an eine türkische Intervention.

 Herr Meyer, am Samstag soll in Genf über einen neuen Syrien-Plan beraten werden, der eine Übergangsregierung der nationalen Einheit vorsieht. Welche Chancen sehen Sie für die Initiative?
Nicht die geringsten. Die radikale Opposition (der Syrische Nationalrat und die Freie Syrische Armee, Anm. d. Red.) fordern kompromisslos den Rücktritt Assads und seines inneren Machtzirkels, damit sie einer solchen Lösung zustimmen. Alle, die Blut an Händen haben, sollen demnach zur Verantwortung gezogen werden. Unter diesen Bedingungen hat der neue Annan-Plan keine Chance, auch wenn er diplomatischer formuliert ist. Das Regime kann sich nicht darauf einlassen. Zudem widerspricht der Vorschlag den Forderungen der innersyrischen Opposition.

Glauben Sie, dass unter den herrschenden Umständen eine innenpolitische Lösung möglich ist?
Immerhin haben im Mai Parlamentswahlen stattgefunden, bei denen das Volk erstmals die Wahl zwischen mehreren Parteien hatte. Die Beteiligung offiziell bei 60 Prozent. Auch wenn sie in Tat und Wahrheit etwas niedriger war: wir sehen eine relativ starke Unterstützung für Assads Reformkurs, vor allem in den Metropolen Damaskus und Aleppo.

Die Wahlen und die neue Regierung, die Assad am Dienstag eingesetzt hat, sind also mehr als Pro-forma-Reformen?
Bei den Wahlen wurden verschiedene Oppositionsgruppen gewählt, die seit Jahren das Regime kritisieren und deren Exponenten dafür auch in den Gefängnissen sassen. Einige von denen haben jetzt Ministerposten erhalten. Ich werte dies als Zeichen, dass Assad zu einem gewissen politischen Wandel bereit ist. Dass die radikale Opposition dies nicht akzeptiert und die westlichen Medien kaum darüber berichten, ist bezeichnend.

Das mag sein, aber das Land steuert direkt auf einen Bürgerkrieg zu. Nüchtern betrachtet gibt es kein Zurück.
Es gibt kein Zurück, das ist richtig. Das hat auch Assad in seiner Ansprache klar gemacht. Wenn er sagt: Wir sind im totalen Krieg, dann heisst das, dass er alle militärischen Möglichkeiten einsetzen wird. Und gewinnen will. Das bedeutet eine Wende, die gewaltsamen Auseinandersetzungen werden sich deutlich verschärfen. Assad steht mit dem Rücken zur Wand. Die Repression zu Beginn der Aufstände war offensichtlich. Durch die Militarisierung der Revolution kann Assad jetzt das grosse Schreckgespenst des Terrorismus an die Wand malen.

Das heisst, Assad setzt auf Konfrontation bis zum bittere Ende?
Es geht ja nicht nur um ihn. Gerade jener Teil der Bevölkerung, der hinter dem Regime steht, verlangt mehr Schutz durch die syrische Armee vor Entführungen und anderen Übergriffen der Revolutionäre. Dort lautet die Kritik, das Regime gehe nicht entschieden genug gegen die Widerstandsnester vor. Kommt hinzu, dass viele Syrer Angst haben vor dem, was nach Assad kommt. Nach der heutigen Konstellation des Syrischen Nationalrates, der von Muslimbrüdern und Salafisten dominiert wird, haben die religiösen Minderheiten allen Grund zur Furcht vor Verfolgung.

Ihre allgemeine Darstellung unterscheidet sich von jener in den gängigen westlichen Medien.
Das erste Opfer im Krieg ist immer die Wahrheit. In westlichen Medien dominiert weitestgehend eine einseitige Darstellung, die von einer Allianz aus USA, den sunnitischen Golfstaaten, der Türkei und den Natostaaten geprägt ist. Die Informationen, die wir bekommen, stammen im Wesentlichen von der Opposition. Die andere Seite wird automatisch ausgeblendet. Die Argumente des Regimes und der russischen Regierung werden negiert. Verstehen sie mich nicht falsch, alles ist verzerrt. Wer recht hat, ist nicht nachzuweisen. Auch die innersyrische Opposition wird bei uns nicht zur Kenntnis genommen.

Was fordert die?
Dass ein Präsident, der den Rückhalt von über der Hälfte der Bevölkerung geniesst, nicht von aussen abgesetzt werden darf. Keine Intervention von aussen, nur innersyrische Verhandlungen können zu einem friedlichen Ende führen. Darin deckt sich die innersyrische Opposition mit der Position Russlands.

Heute hiess es, die Russen würden Annans Übergangsplan allenfalls zustimmen. Moskau forderte Assad zu «längst fälligen Reformen» auf. Wendet sich Russland allmählich von Assad ab?
Absolut nicht. Die ganze Glaubwürdigkeit Moskaus hängt davon ab, auf der Seite von Assad zu bleiben.

Die Russen fürchten um die lukrativen Waffenlieferungen an Syrien und ihren Stützpunkt am Mittelmeer. Stehen nicht viel eher diese strategischen Überlegungen im Vordergrund?
Natürlich spielt das eine Rolle. Doch die Golfstaaten, die Türkei und die USA agieren genauso strategisch.

Die Türkei mobilisiert jetzt massiv an der Grenze. In der Region hat Ankara noch andere Probleme mit Kurden und Alewiten. Kommt Erdogan die Situation gelegen?
Auch was die Türkei angeht, haben wir im Westen blinde Flecken. Die türkische Opposition wirft Erdogan vor, dass er mit seinem Ziel, den Panislamismus zu verbreiten, die Position der Türkei in der Region massiv gefährdet. Er wird auch für den Tod der zwei abgeschossenen Luftwaffensoldaten verantwortlich gemacht, den er in Kauf genommen habe, um mit Katar und den Saudis die nicht-sunnitische, säkulare Herrschaft in Syrien zu stürzen. Gelegen kommt Erdogan die Situation aber nicht. Die Kurden haben für den Fall eines türkischen Einmarsches in Syrien bereits Aktionen in Anatolien angekündigt. Und es würde die wirtschaftlich wichtigen Beziehungen zum Iran gefährden."

Quelle: http://www.tagesanzeiger.ch/ausland/naher-osten-und-afrika/Assad-ist-zum-Wandel-bereit/story/27174702

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