Meinen Gesprächspartner traf ich bereits im vergangenen Herbst in Homs:
er und seine Leidensgenossen berichteten mir schon damals von ihren
entführten und barbarisch ermordeten Verwandten. Nun bin ich wieder bei
ihm in Homs, und während unseres Gesprächs kommt ein Mann herbei, der
Listen mit weiteren Angaben zu Entführungsopfern mitgebracht hat.
Ich hatte damals schon vom Bruder eines Bekannten berichtet, der seit
geraumer Zeit immer eine Handgranate dabei hat, um sich bei drohender
Geiselnahme selbst in die Luft zu sprengen. Seither ist die Situation
eher noch schlimmer geworden. Die Zahl der offiziell registrierten
Entführten geht an die Tausend, darunter sind viele Kinder, Frauen und
Alte.
Unter anderem zur Bekämpfung dieser Erscheinung wurde in Syrien eine
gesellschaftliche Organisation gebildet, die um die zweieinhalbtausend
Mitglieder hat und in deren Reihen in Syrien bekannte und geachtete
Persönlichkeiten agieren. Sie leisten Beratung und Hilfe bei der
Konfliktbewältigung. Letzteres ist besonders wichtig, da aufgrund der
Clanstrukturen die Verwandten der Entführten oft zur Rache an solchen
Clans greifen, die sie der Entführung ihrer Verwandten verdächtigen. Der
eine Clan nimmt sich aus „Rache“ für die Entführung oder Ermordung
eines Familienangehörigen eine Geisel aus einem anderen Clan, und so
perpetuiert sich die Not der Menschen. Scheich Habib al-Fandi, der in
dieser Organisation tätig ist, berichtet darüber, welche Mittel und
Aktivitäten die Organisation anwendet, um solche Konflikte beizulegen
und keine Selbstjustiz in der Bevölkerung zuzulassen.
Imad zeigt mir seine Computerdateien. Er zeigt auch, in welchem Zustand
die Leichen der zuvor entführten Verwandten und Bekannten an die
unglücklichen Familien zurückgegeben werden. Es gibt zahlreiche Spuren
von Folter (zum Beispiel sieht man oft Brandwunden, die den Opfern
offensichtlich mit glühenden Metallgegenständen zugefügt worden sind,
auch Spuren von Schnittwaffen, mit denen man innerhalb mehrerer Tage
methodisch die Wunden an den Körpern der Entführten vergrößert hat). Es
gibt Leichen, an denen man die Weichteile des Gesichts komplett entfernt
hat, damit man die Entführten und Ermordeten möglichst lange nicht
identifizieren kann.
Wir entschließen uns, einige der Familien aufzusuchen, aus deren Reihen
Menschen entführt worden sind. Junge Freiwillige aus der Organisation
sagten uns, wir können einen beliebigen Namen aus der Liste wählen, um
so zu zeigen, dass die Liste nicht einfach aus dem Telefonbuch stammt –
man kennt hier ja auch die Listen der „Opfer des Regimes“, welche von
der außersyrischen Opposition fabriziert wurden und die nichts als eine
Abschrift von Telefonverzeichnissen darstellten.
Ein enges Gässchen. Eine kleine, bescheidene Wohnung. Wir treffen einen
Jungen von ungefähr zehn Jahren, es ist der Jüngste der Familie, er ist
seit dem frühen Kindesalter gelähmt – und er ist der einzige, der in
diesem Haus lächelt. Der trauernde Vater und die von Not gezeichnete
Mutter erzählen von ihrem am 8. März entführten ältesten Sohn. Jechha
Issa wurde einen Monat vor seiner Entführung durch
Maschinengewehrschüsse verletzt, als er während eines Überfalls auf
einen Checkpoint zufällig an diesem vorüberging. Der 18-jährige brauchte
aufgrund dieser Verletzung Krücken, und die Eltern waren gerade
auswärts, um diese zu beschaffen. Vor den Augen der Nachbarn wurde der
Junge direkt vor seinem Haus von Banditen in ein Auto gezerrt. Es gab
seither keinerlei Versuche einer Kontaktaufnahme und niemand hat
Lösegeld gefordert. Der Vater sagt, es kommen immer wieder Nachrichten,
denen zufolge der Junge tot sein muss. Er sagt auch, dass sein Sohn von
einer tschetschenischen (sic) Bande entführt wurde, die hier des Öfteren
schon durch Entführungen, Mord und Vandalismus aufgefallen ist. (Ich
kann das glauben, denn vor einigen Monaten sah ich selbst Tschetschenen
unter der sogenannten „Freien Syrischen Armee“ in einer anderen
syrischen Provinz. – AK) Zum Abschied versuche ich, ein paar tröstende
Worte zu finden, und wir fahren zu einer anderen Familie.
Das ist ein älteres Paar, das gleich vier ihrer erwachsenen Kinder
verloren hat. Die Kinder kamen zu den Eltern, um ihnen beim Umzug zu
helfen und wollten Sachen in ein Auto verladen. Die Eltern hatten vor,
zeitweilig nach Damaskus zu gehen. Fünf Bewaffnete haben die Söhne
überfallen. Zwei wurden entführt, die beiden anderen an Ort und Stelle
erschossen. Der 40 Jahre alte Ahmad und der 38 Jahre alte Muhammad
hinterlassen eine Familie mit Kindern. Für die Rückkehr des 26-jährigen
Wasim und des 32-jährigen Iyad betet die Familie in jedem Augenblick.
Der weinende Vater sagt, dass die Wunden eines der beiden Älteren nicht
sehr kritisch waren und das man ihn hätte retten können, zumal es nur
200 Meter bis zum nächsten Krankenhaus sind. Doch die Situation verlief
so, dass sein Sohn am Blutverlust gestorben ist, denn die Entführer
haben zu allem Übel noch das Haus der Alten angezündet. Sie haben nun
keinerlei eigene Habe mehr, keine Sachen, keine Familienfotos. „Gott,
nimm mein Leben, aber gib es meinen unglücklichen Jungs zurück!“, weint
der alte Mann…
Die Organisation für Familienangehörige der Entführungsopfer räumt ein,
dass der Nachrichtenlage nach die meisten der als entführt gemeldeten
Menschen umgebracht worden seien. Doch ist man sehr vorsichtig bei der
Verbreitung solcher Informationen. Die verlorene Hoffnung auf die
Rückkehr der Lieben könnte durchaus auch eine Ursache für irgendwessen
verfrühten Tod werden."
Homs am 13.06.2012 |
die Straßen von Homs am 13.06.2012 |
Scheich Habib al-Fandi |
Die Eltern mit ihrem jüngeren Sohn |
Der 18-jährige Jechha Issa, entführt am 8. März 2012 in Homs |
Vater und Sohn |
Die Mutter hat ihre vier Söhne verloren. |
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