"Die Freie Syrische Armee steckt in der Krise, die moderate Opposition
ist handlungsunfähig. Das Vakuum füllt jetzt eine Al-Kaida-Gruppe. "Dr. Osman?" – der sei nicht da, sagt die Ärztin abweisend. Sie
arbeitet in einer provisorischen Klinik in jenem Teil Aleppos, den seit
einem Jahr die Opposition kontrolliert. In der Nähe des im November
ausgebombten Dar al-Schifa Spitals
wurde diese notdürftige Krankenstation aufgebaut. "Vierzig Menschen
starben damals bei dem gezielten Angriff. Uns ist es lieber, es wird
nicht zu viel über uns und die neue Klinik berichtet", sagt sie und will
erst keinen Namen nennen: "Sie können schreiben, ich heiße Nur
al-Huweidi."
Kaum jemand will in der nordsyrischen Stadt Aleppo
nachvollziehbar zitiert werden; besonders, wenn es um heikle Themen
geht. Nur zählen heute dazu weniger die Koordinaten des Spitals der
Ärztin als vielmehr der Aufenthaltsort ihres Chefarztes. "Dr. Osman ist
in einem Dorf untergetaucht. Wegen der vielen Feinde", räumt die Ärztin
schlussendlich ein: "Es geht ihm gut, aber wir müssen ihn schützen."
Dr. Osman al-Haj Osman hat den Status einer Legende in Aleppo: Dies
nicht nur wegen seines Einsatzes als Arzt. Er zählt zu den wenigen
unerschrockenen Kritikern der neuen Ordnung, die derzeit rasant das
Machtvakuum in den gesetzlosen Rebellengebieten in und um Aleppo füllen.
Als Geste seines Missfallens riss er im März eine schwarze Flagge mit
dem islamischen Glaubensbekenntnis in weißer Schrift von einer
Spitalwand. Mit solchen Flaggen markiert die Al-Kaida ihr Territorium.
Und sie sind heute in Aleppo omnipräsent: An Hauptdurchzugsrouten,
Geschäftsstraßen, an Kebab-Ständen, Checkpoints, auf dem Stirnband ihrer
Kämpfer. Und auch in – eben fast allen – Spitälern.
"Die haben Waffen und Munition. Wir nicht."
Am Tag nach seiner Widerstandsaktion wurde Dr. Osman verhaftet und 24
Stunden später auf Druck von Demonstranten freigelassen. "Sehen die
Menschen hier nicht, dass wir während des Kampfes gegen eine Diktatur in
eine neue Tyrannei der Islamisten geraten?", tobte er nach seiner
Freilassung im Gespräch mit internationalen Reportern. Nun geht er in
Deckung.
Seine Verhaftung befahl der sogenannte Scharia-Rat,
eine quasi-staatliche Autorität der Stadt. Neben der Liwa al-Tawhid,
jener Brigade der Freien Syrischen Armee (FSA), die das "befreite"
Aleppo eigentlich kontrolliert, sowie weiteren verbündeten Milizen, ist
auch die Al-Nusra-Front Teil des Gremiums. Diese Gruppe bekennt sich
seit April offiziell zum Al-Kaida-Netzwerk und steht inzwischen auf der roten Terror-Liste der UNO.
Doch das kratzt kaum am Image der Al-Nusra-Front. Seit Jahresbeginn
übernimmt sie samt ihren 8.000 bis 10.000 Kämpfern sukzessive die Rolle
einer führenden Eliteeinheit des bewaffneten Flügels der syrischen
Opposition. Bis zu einer Milliarde Euro investierten vor allem Sympathisanten aus Katar
in die Truppe. Geld, das in Waffen, in die Bezahlung von Kämpfern und
auch in Hilfsprojekte für die Bevölkerung investiert wird. "Wir sind
längst auf die Kooperation mit der Al-Nusra angewiesen. Sonst wären wir
verloren", gab FSA-Kommandant Salim Idriss
vor wenigen Tag unumwunden zu. Zuvor hatte er mehrmals davor gewarnt,
dass ganze Einheiten der FSA zur "Al-Nusra-Front" überlaufen: "Die haben
Waffen und Munition. Wir nicht", so Idriss.
Ihre militärische Überlegenheit münzt die Al-Nusra-Front nun in den
Aufbau einer Machtbastion außerhalb der Frontlinien um. Die Gruppe
kontrolliert die Getreidespeicher und die Ölförderung in den syrischen
Rebellengebieten und zunehmend auch den Alltag der Bevölkerung. "Wir
sind Soldaten Gottes", beschreibt einer ihrer Kämpfer seine Vision, die
weit über den Kampf gegen das Regime von Präsident Baschar al-Assad
hinausgeht: "Wir sind die Werbeträger einer neuen Ordnung, die auf den
Gesetzen des Propheten beruht. Und die Leute sehen. Wo wir sind, da gibt
es Brot, Sicherheit und Recht."
So auch in Aleppo.
Eigentlich gebe es hier auch eine säkulare, innerhalb der Opposition gewählte Stadtverwaltung samt einem liberalen Gericht,
von dem nach einer Vorlage der Arabischen Liga ein Kodex umgesetzt
wird, der sich an einem demokratischen Rechtsstaat orientiert. Doch als
eigentlicher Machtfaktor etablierte sich die Scharia-Autorität samt
ihrem Scharia-Gericht und dies vor allem mithilfe der Al-Nusra-Front.
"Vor uns müssen sich auch die Kommandanten von Milizen verantworten.
Und wir werden von jenen unterstützt, die tatsächlich die Lage
kontrollieren. Das verschafft Respekt", so Abu Hedi, ein Organisator des
Scharia-Gerichts.
Mittlerweile verhängt das Gericht Peitschenhiebe als Buße für
Alkoholkonsum oder anderes "unsittliches Verhalten". Einheiten einer
"Moral- und Sittenpolizei" patrouillieren die Straßen und achten auf
Verstöße gegen die Regeln dieser vom Gericht exekutierten strikten
islamischen Ordnung.
Die Bewohner Aleppos nehmen das in Kauf, weil jedes Recht besser sei
als keines, wie viele sagen: "Alleine in meiner Nachbarschaft wurden
drei Männer von FSA-Kämpfern entführt und gegen Geld freigepresst. Diese
verarmte Truppe nimmt, was ihr in die Hände fällt", sagt Salim Abu
Mohamad, ein Lehrer, der im umkämpften Viertel Bustan al-Kasr lebt. "Die
Al-Nusra Milizen sind auf unserer Seite. Sie stehlen nicht, sie rauben
nicht, sie entführen niemanden. Das überzeugt mich. Über den Rest reden
wir nach dem Krieg."
Quelle: http://www.zeit.de/politik/ausland/2013-06/syrien-vakuum-al-nusra-front/seite-2
Die Al-Nusra Milizen sind auf unserer Seite. Sie stehlen nicht, sie rauben nicht, sie entführen niemanden
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