"Außerhalb der Türkei ist Utku Kali weitgehend unbekannt. In seinem Land
gilt der Gefreite der Militärpolizei dagegen unter Regierungskritikern
entweder als türkischer Bradley Manning oder als Unschuldiger, mit dem
staatliche Stellen von ihrer Verwicklung in Terroranschläge ablenken
wollen.
Bei zwei Autobombenanschlägen in der Stadt Reyhanli waren am 11. Mai in
der an Syrien grenzenden Provinz Hatay mindestens 53 Menschen getötet
worden. Die türkische Regierung hatte kurz nach den Attacken erklärt,
der syrische Geheimdienst habe die Bomben in Zusammenarbeit mit
türkischen Linksradikalen gelegt.
Der am 24. Mai verhaftete Wehrdienstleistende Kali wird nun beschuldigt,
in seiner Dienststelle Kopien von Dokumenten des
Militärpolizei-Geheimdienstes gemacht und über sein Mobiltelefon an
einen Journalisten in Istanbul geschickt zu haben. Diese von der
linksradikalen Cyberaktivistengruppe Red Hack ins Internet gestellten
Dokumente beweisen, daß staatliche Stellen über die Vorbereitung der
Anschläge durch die in Syrien für die Errichtung eines islamischen
Emirats kämpfende dschihadistische Al-Nusra-Front informiert waren.
Sogar die Automarken und Kennzeichen der von den Islamisten präparierten
Fahrzeuge waren dem Geheimdienst bekannt, ohne daß dieser die Attacken
verhinderte. Da sich der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip
Erdogan kurz darauf mit US-Präsident Barack Obama traf, sollte durch
solche, später der syrischen Regierung angelastete Rebellenanschläge
Stimmung für ein direkteres militärisches Eingreifen der NATO gemacht
werden, vermuteten Oppositionspolitiker in der Türkei.
Eine Militärstaatsanwaltschaft hatte eine Haftstrafe von 25 Jahren gegen
Kali wegen der Weitergabe von Staatsgeheimnissen gefordert. Doch Mitte
August erklärte sich das Militärgericht in Sivas für nicht zuständig und
überwies den Fall an das Hohe Kriminalgericht in Samsun. Vor diesem mit
Sondervollmachten zur Terrorismusbekämpfung versehenen Gericht soll
Kali nun nach dem Antiterrorgesetz verurteilt werden, teilte seine
Schwester und Anwältin Ceren Kali Ende voriger Woche auf einer
Pressekonferenz mit.
Kalis Familie ist von dessen Unschuld überzeugt. Dieser sei kein »Held«
sondern ein einfacher Bürger, der seinen Militärdienst ableistete. »Er
hat die Straftat selbst während seines Verhörs, bei dem Folter zur
Anwendung kam, nicht gestanden«, erklärte seine Anwältin. Die
Solidarität mit Kali sei groß. Er bekäme im Militärgefängnis Hunderte
Briefe. Musikgruppen schickten ihre CDs und Schriftsteller ihre Bücher.
Red Hack hatte bereits vor Kalis Festnahme gewarnt, daß der Staat einen
Soldaten als Bauernopfer präsentieren würde, um durch eine
Reyhanli-Leak-Affäre vom brisanten Inhalt der Dokumente abzulenken.
Nachdem Red Hack bereits bei Veröffentlichung der Geheimdienstdokumente
Fotos beigefügt hatte, die Politiker der islamisch-konservativen
AK-Partei gemeinsam mit Kämpfern der Al-Nusra-Front in Reyhanli zeigten,
sind jetzt erneut Bilder von Politikern der Regierungspartei mit
Al-Qaida-Mitgliedern aufgetaucht. Der Bürgermeister der Grenzstadt
Ceylanpinar, Ismail Arslan, der selber der prokurdischen Partei für
Frieden und Demokratie (BDP) angehört, präsentierte Aufnahmen, auf denen
die AKP-Abgeordneten Seydi Eyüpoglu und Abdulkerim Göc aus Urfa sowie
der AKP-Stadtratskandidat Menderes Attila mit dem syrisch-arabischen
Stammesführer Nawaf Al-Bashir auf einem Treffen am 21. August in
Istanbul zu sehen sind. Al-Bashirs Stamm unterhält enge Beziehungen zu
Al-Qaida, seine Männer beteiligten sich von Ceylanpinar aus an Angriffen
der Al-Nusra-Front auf die direkt jenseits der Grenze gelegene
syrisch-kurdische Stadt Serekaniye, die von kurdischen Milizen
kontrolliert wird. Ein anderes Bild zeigt Attila und weitere
AKP-Funktionäre mit einem Kämpfer der Al-Nusra-Front in Ceylanpinar. Die
Al-Qaida-Kämpfer würden dort in Hotels untergebracht, versorgt und
geschützt, beschuldigte Bürgermeister Arslan die AKP der Unterstützung
der für zahlreiche Massaker an religiösen und ethnischen Minderheiten in
Syrien verantwortlichen Gotteskrieger."
Quelle: http://www.jungewelt.de/2013/08-26/033.php
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