"Herr Todenhöfer, das syrische Militär scheint erstarkt, die
Einnahme der strategisch wichtigen Stadt Al-Kusair nahe der libanesischen
Grenze, die bislang von den Rebellen gehalten wurde, im Bereich der
Möglichkeit. Wie erklären Sie sich diesen Wendepunkt im syrischen Bürgerkrieg,
sieht man einmal von der Rolle der Hisbollah ab?
Diese Entwicklung ist nur für jene westlichen Politiker
erstaunlich, die ihre eigene Propaganda geglaubt haben. Sie gingen davon aus,
dass in Syrien wir in Tunesien, Ägypten und Libyen mehr als 90 Prozent der
Bevölkerung gegen ihren Diktator kämpfen. Aber in Syrien stehen noch mindestens
35 bis 40 Prozent der Menschen – Alawiten, Christen und der gemäßigte Teil der
sunnitischen Mittelschicht – hinter Assad. Wahrscheinlich hat er sogar mehr
Anhänger als die Rebellen. Die schweigende Mehrheit hält sich zurück, ob wir
das wollen oder nicht. Die westliche Politik hat die syrischen Realitäten kontinuierlich
falsch eingeschätzt.
Ist Assad deshalb nicht gestürzt?
Wahrscheinlich. Ein Teil der Bevölkerung steht wie eine Wand
hinter ihm. Ich war sechsmal seit Beginn der Unruhen in Syrien und jedesmal
wieder erstaunt, wieviele Menschen sich noch immer zu ihm bekennen. Die
Unterstützung für ihn steigt eher an, als Gegenbewegung zur Radikalisierung der
syrischen Rebellen und zur Einmischung des Auslands.
Wer kämpft in Syrien gegen wen?
Wir haben eine blutige Mischung aus einem Religionskrieg
extremistischer Sunniten gegen Schiiten und Alawiten und einen
Stellvertreterkrieg der USA, Saudi-Arabiens und Katars gegen Iran. Iran ist
ihnen durch Bushs törichten Irakkrieg zu mächtig geworden. Hierfür wird die
radikale Rebellengruppe al-Nusra, der syrische al-Kaida-Ableger, von
Saudi-Arabien und Katar gezielt mit Geld und Waffen unterstützt. Die
Unterstützung extremistischer Rebellen ist von den Amerikanern schon kurz nach
Beginn der Unruhen im Frühjahr 2011 stillschweigend abgenickt worden. Die
amerikanischen Zauberlehrlinge haben aber nicht vorausgesehen, dass die
Radikalisierung so weit gehen würde, dass am Ende al-Nusra und damit al-Kaida
die Führung des Aufstands übernehmen würde. Eine groteske Fehleinschätzung.
Stichwort Stellvertreterkrieg. Russland war und ist Syrien
seit Jahrzehnten militärisch und wirtschaftlich verbunden. Wiederholt sich in
Syrien ein Muster aus der Zeit des Ost-West-Gegensatzes?
In einem gewissen Sinn haben wir hier eine Fortsetzung des
Ost-West-Konflikts. Für die Russen ist ihre Marine-Basis im syrischen Tartus
ihr letzter Zugang zum Mittelmeer und zum mittleren Osten. Dort liegen 70% der
nachgewiesenen Ölvorräte der Welt. Washington will hier keine Russen, Syrer und
Iraner als Störenfriede.
Wie ist das Verhältnis zwischen den Rebellengruppen al-Nusra
und der Freien Syrischen Armee?
Wir haben in Syrien die größte al-Kaida-Kampftruppe, die es
jemals auf der Welt gab. Das sind nach Schätzungen demokratischer syrischer
Oppositioneller mindestens 15.000 Mann, davon etwa ein Drittel ausländische
Kämpfer. In Syrien gelten sie als die diszipliniertesten, todesmutigsten
Rebellen. Sie bekommen viel Geld – ein Kämpfer wird mit über 300 Dollar pro
Monat bezahlt. Das ist dort viel Geld. Und al-Kaida hat dazu gelernt. Sie
organisiert zum Beispiel in bestimmten Stadtvierteln von Aleppo die
Lebensmittel-Versorgung. Das macht sie bei manchen Bevölkerungsschichten
inzwischen sogar beliebt. Die Freie Syrische Armee bekommt vor allem aus Katar
Geld, 150 Dollar pro Kämpfer im Monat. Die Radikalisierung hat aber auch die
FSA erfasst, weil sie die Erfolge der al-Nusra sieht. Die wollen inzwischen
teilweise auch einen „islamischen Gottesstaat“. Ganz am Anfang der Proteste im
Frühjahr 2011 gab es noch eine echte demokratische Bewegung eines Teils der
sunnitischen Bevölkerung. Vor allem in den Vorstädten und auf dem Land. Die
spielt aber jetzt keine Rolle mehr.
Was ist die Lösung?
Die Amerikaner sollten mit beiden Seiten in Syrien sprechen –
sowohl mit Assad als auch mit den Rebellen. Der erste und wichtigste Schritt zu
einer Friedenslösung wäre das sofortige Einstellen aller Waffenlieferungen und
Geldzahlungen aus Saudi-Arabien und Katar, aber dann auch aus Russland und
Iran. Vielleicht erreichen wir dann doch noch eine friedliche demokratische
Lösung in Syrien. Aber ich bin nicht überzeugt, dass Saudi-Arabien und Katar
das wollen. Die wollen ja auch keine Demokratie in ihren Ländern. Die sind
weiter von Demokratie entfernt als Syrien.
Fühlen Sie sich in ihren Einschätzungen zu Syrien durch die
aktuellen Entwicklungen bestätigt?
Leider ja. Ich bin ausgelacht worden, als ich gesagt habe,
Assad werde nicht sofort fallen oder als ich gesagt habe, es gäbe
al-Kaida-Kämpfer in Syrien. Jetzt hat der Westen in Syrien wieder einmal ein politisches
Chaos angerichtet. Ähnlich wie im Irak."
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