"Versuchen
Rebellen und Erdogan mit einer Giftgas-Lüge das Eingreifen der NATO in
Syrien durchzusetzen? Diese Frage stellt Prof. Günter Meyer, der Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt (ZEFAW) an der Universität Mainz.
Von Prof. Dr. Günter Meyer
Die
nachfolgende Stellungnahme erscheint auf LarsSchall.com mit persönlicher
und ausdrücklicher Genehmigung von Prof. Meyer. Als Ergänzung zu diesem
Artikel möchten wir auf dieses Exklusiv-Interview mit Prof. Meyer auf
LarsSchall.com aufmerksam machen, “Zu Syrien und weit darüber hinaus“.
Prof. Dr. Günter Meyer hat seit
fast 40 Jahren empirische Forschungen über die soziale, wirtschaftliche
und politische Entwicklung in den arabischen Ländern durchgeführt und
ist Autor von mehr als 150 Büchern und Artikeln, vor allem über Syrien,
Ägypten, Jemen und die Länder des Golf-Kooperationsrats. Er leitet das
Zentrum für Forschung zur Arabischen Welt an der Johannes
Gutenberg-Universität in Mainz, Deutschland, eines der weltweit
führenden Informationszentren für die Verbreitung von Nachrichten und
Forschungen zum Nahen Osten. Professor Meyer ist- Vorsitzender der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Vorderer Orient für gegenwartsbezogene Forschung und Dokumentation (DAVO)
- Präsident der European Association for Middle Eastern Studies (EURAMES)
- Vorsitzender des International Advisory Council of the World Congress for Middle Eastern Studies (WOCMES)
Eine Giftgas-Verschwörung der Assad-Gegner?
von Prof. Günter Meyer
Versuchen Rebellen und Erdogan mit einer Giftgas-Lüge das Eingreifen der NATO in Syrien durchzusetzen?
Präsident
Obama hatte im August 2012 erklärt, dass mit dem Einsatz von
Chemiewaffen durch das Assad-Regime die „rote Linie“ überschritten
werde, die ein Eingreifen der USA in Syrien zur Folge haben würde.
Inzwischen haben die Geheimdienste in Israel und den USA die
Behauptungen der Aufständischen bestätigt, dass Giftgas gegen die
Zivilbevölkerung eingesetzt wurde. Dennoch ist der US-Präsident bisher
nicht bereit, seine früheren Drohungen gegenüber dem syrischen Regime
wahrzumachen, weil nicht bewiesen ist, von wem das Giftgas eingesetzt
wurde. Überzeugende Argumente sprechen dafür, dass es nicht den
geringsten Grund gab, weshalb Regierungstruppen die Rebellen mit
chemischen Kampfstoffen hätten angreifen sollen. Stattdessen deutet
alles darauf hin, dass die Aufständischen Giftgas eingesetzt haben, um
die Regierung für dieses Verbrechen verantwortlich zu machen, und
dadurch den Druck auf das Regime zu erhöhen. Dem gleichen Kalkül
scheinen auch die jüngsten Behauptungen des türkischen
Ministerpräsidenten in einem NBC Interview zu entsprechen, wonach
wenigstens 200 Giftgasgranaten von den syrischen Regierungstruppen
abgefeuert wurden.
Chemiewaffeneinsatz des Regimes aus strategischen und taktischen Gründen unsinnig
Bei
der Aufklärung eines Verbrechens stellt sich als erstes die Frage: Wer
profitiert davon? Mit Sicherheit nicht das Assad-Regime! Es
ist völlig unsinnig, dass die Regierungstruppen in der gegenwärtigen
Situation Giftgas einsetzen, da sie mit ihren konventionellen Waffen den
Rebellen gegenüber weit überlegen sind und insbesondere mit ihren
Kampfflugzeuge die Aufständischen gezielt bekämpfen können. Sie gehen
damit auch nicht das Risiko ein, dass Giftgas durch eine Änderung der
Windrichtung in die falsche Richtung gelenkt wird. Außerdem ist sich das
Regime bewusst, dass ein Angriff mit chemischen Kampfstoffen genau das
Signal ist, auf das die Aufständischen seit langem gewartet haben, um
ihren Forderungen nach Waffenlieferungen Nachdruck zu verschaffen. Damit
ist offensichtlich, dass der Giftgaseinsatz allein den Aufständischen
nützt, die Position des syrischen Regimes dagegen gravierend schwächt.
Opfer des Giftgasangriffs waren Anhänger des Assad-Regimes
Wenn
die Regierungstruppen für den Chemiewaffeneinsatz verantwortlich wären,
dann müsste es sich bei den Opfern um Regimegegner handeln. Der erste
Giftgasangriff mit der höchsten Zahl von Opfern richtete sich jedoch
gegen das Dorf
Khan al-Assal nördlich von Aleppo, dessen Bevölkerung auf der Seite des
Regimes steht. Der größte Teil der Einwohner sind Schiiten, die von den
sunnitischen Rebellen bekämpft werden. Dass Regierungstruppen eine von
ihnen selbst kontrollierte Siedlung mit chemischen Kampfstoffen
angreifen und dabei neben den schiitischen Bewohnern auch drei eigene
Soldaten töten, widerspricht jeder Logik. Für diesen Angriff können nur
Aufständische verantwortlich sein.
Giftgasangriff von Djihadisten mit türkischer Unterstützung?
Nach
Recherchen der britischen Tageszeitung The Guardian wurde der
Giftgasangriff mit Hilfe einer kleinen, mit einer Giftgasgranate
bestückten Rakete durchgeführt, die aus
dem Ort Bab nahe der türkischen Grenze abgefeuert wurde. Dieser Ort ist
eine Hochburg der djihadistischen Nusra-Front, die sich Al-Kaida
angeschlossen hat.
Doch wie kamen die chemischen Kampfstoffe in den Besitz der Rebellen? Stammen sie aus Beständen des syrischen Regimes? Die
Chemiewaffenlager werden nicht nur von alawitischen Elitesoldaten,
sondern auch von Angehörigen der iranischen Revolutionsgarden bewacht.
Immer wieder haben westliche Geheimdienste betont, dass die syrischen
Chemiewaffenlager sicher sind, solange das Regime an der Macht bleibt.
Es ist deshalb auszuschließen, dass Chemiewaffen von hier ihren Weg zu
den Rebellen gefunden haben. Stattdessen wird angenommen, dass die in
Bab eingesetzte Giftgasgranate über die benachbarte offene Grenze von
türkischem Gebiet in die Hände der Djihadisten gelangt ist.
Eine
direkte Beteiligung des türkischen Geheimdienstes an einer solchen
Lieferung ist zumindest nicht auszuschließen und entspricht den
Interessen Ankaras. Mit der Unterstützung eines Chemiewaffeneinsatzes in
Syrien, wofür dann das Regime verantwortlich gemacht wird, hat die
Erdogan Regierung die Möglichkeit, den Druck auf Obama zu erhöhen, um
die seit langem von der türkischen Regierung geforderte Flugverbotszone
in Syrien zu etablieren.
Del Ponte bekräftigt „starken, konkreten Verdacht“ des Saringas-Einsatzes durch Rebellen
Die
unabhängige internationale UN-Kommission zur Untersuchung Syriens hat
außerhalb des Landes im Zusammenhang mit dem Giftgaseinsatz zahlreiche
Interviews mit Opfern, Ärzten und Krankenhauspersonal durchgeführt. Das
prominente Kommissionsmitglied Carla Del Ponte erklärte daraufhin in
einem Interview als Ergebnis der Untersuchungen, es bestehe „ein
starker, konkreter Verdacht, aber kein unwiderlegbarer Beweis, dass
Saringas eingesetzt wurde – und dies von Seiten der Opposition, nicht
der Regierung.“ Die UN betonte daraufhin umgehend, dass es „keine
beweiskräftigen Ermittlungsergebnisse für den Einsatz chemischer Waffen
durch eine der Konfliktparteien gibt“. Dennoch kommen aufgrund aller
vorliegenden Indizien nur die Rebellen als Verantwortliche für den
Chemiewaffeneinsatz in Frage, wie Del Ponte in einem weiteren Interview
unterstreicht.
Inszenierung einer Giftgas-Lüge durch den türkischen Geheimdienst?
Nach
dem schweren Rückschlag für die bisherigen Behauptungen eines
Chemiewaffeneinsatzes durch das Assad-Regime, wartet Ministerpräsident
Erdogan jetzt mit neuen angeblichen Beweisen für das Überschreiten der
„roten Linie“ auf, um den Druck auf Washington zu erhöhen. Der Zeitpunkt
für diese Enthüllungen vor seinem anstehenden Besuch der USA ist
optimal gewählt. So behauptet er in einem Interview mit NBC, der
türkische Geheimdienst verfüge über die Reste von mindestens 200
Geschossen mit Giftgasspuren, die vom Regime in Syrien eingesetzt worden
seien. Als weiteren Beweis führt er die Verletzungen von Syrern an, die
in türkischen Krankenhäusern behandelt wurde. Diese angeblichen Beweise
sind noch weniger überzeugend als die früheren propagandistischen
Falschmeldungen der Rebellen. Wenn das Regime tatsächlich in einem
solchen Ausmaß Massenvernichtungswaffen gegen die eigene Bevölkerung
eingesetzt hätte, wäre die Zahl der Opfer ungleich höher als die bisher
angegebenen etwa 15 Toten und weniger als 100 Verletzten. Die
Verbreitung solcher angeblichen Beweise dient allein den Interessen der
türkischen Regierung, um dadurch ein militärisches Eingreifen der NATO
in Syrien durchzusetzen.
Bereits frühere türkische Granaten-Lüge zur Stationierung der Patriot-Batterien?
Hier
entsteht der Verdacht, dass die türkische Regierung bereits zum zweiten
Mal versucht, mit Falschmeldungen die NATO-Partner in den Syrienkrieg
hineinzuziehen. Der Journalist Lars Schall ist in der semi-offiziellen
österreichischen Militärzeitschrift „Der Soldat“ (Ausgabe Nr. 1/2013,
18. Januar 2013) auf die folgende Meldung aufmerksam geworden: „Türkei:
Jene Werfergranate aus Syrien, die fünf Türken tötete, stammt eindeutig
aus NATO-Beständen. Es scheint so, als hätte das NATO-Mitglied Türkei
die syrischen Aufständischen mit Waffenlieferungen unterstützt.
Allerdings müssten diese Lieferungen mit anderen NATO-Staaten abgestimmt
sein.“ Dieser Angriff auf türkisches Territorium, für den Ankara die
syrische Regierung verantwortlich machte, lieferte die Begründung für
die Stationierung von NATO-Soldaten und Patriot-Raketen nahe der
türkisch-syrischen Grenze. Lars Schall hat sich intensiv darum bemüht,
eine Bestätigung für den Einsatz der NATO-Granate bei den zuständigen
Stellen zu erhalten – vergeblich. Es war aber auch niemand bereit, diese
Meldung zu dementieren. (Vgl. http://www.larsschall.com/2013/05/05/waffen-aus-nato-turkei-bestanden-in-akcakale-ein-ratsel/).Angesicht
der jüngsten Behauptungen der türkischen Regierung erscheint die
Meldung in der Militärzeitschrift in einem völlig neuen Licht."
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